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B(r)uchstücke der Literatur LXVII – 1950-2000

B(r)uchstücke der Literatur LXVII – 1950-2000

Ab der Nachkriegszeit fielen alle Tabus für Themen, die zuvor nicht für würdig genug befunden wurden, beschrieben zu werden und alle geistigen, sowie weltlichen Erscheinungen forderten die Eloquenz des Schreibenden. Für die Literatur in den westlichen Demokratien gab es keine Schranken mehr.

Empfindung des Geschmacks

John Updike, Foto: © loc.gov/pictures

„Bevor Gregg einen Schluck nahm, schwenkte er die Tasse sorgfältig herum, und wie eine flexible Messingmünze kreiste die einen Zentimeter hohe Flüssigkeit in der weißen Mulde. Dann, mit einer geradezu delikaten Bewegung, tat er einen Zug. Wie aus dem Aroma dieses oder jenes Gemüses Ackerfelder von lieblichem, bäuerlichem Landschaftscharakter entstehen, Häuser, Felder und grasüberwachsene Heckenwege, so blühte der kratzende, rauhe Duft in Gregs Mund zu hohen, klaren Ziegelmauern auf, zu Straßen aus narbigem Asphalt, der blutet unter der Hitze des Sommers, zum blauen Schimmer auf Wellblechplatten, da, wo sie nicht orangefarben verrostet sind, zu Sonnen, die sich auf einer Reihe parkender Autos spiegeln, zu Mandarinenpyramiden hinter Schaufensterscheiben, zu Kanalisationsdeckeln, Schmutz in Rinnsteinen, Präservativen, hinausgeworfen auf Fenstersimse, zu ungetünchten Torwegen, die mit prekären Losungen bekritzelt sind.“
Das Fest am Abend, John Updike (1932-2009)

Freiheit der Menschen und des Geistes

Henry Miller, Foto: © Monozigote

„Die Menschheit tat mir leid, die Dummheit des Menschen und sein Mangel an Erfindungsgabe. Einmal nichts zu essen zu haben, war nicht so schrecklich. Was mich zutiefst aufwühlte war die gespenstische Leere der Straße. All diese elenden Häuser, eines wie das andere öde und freudlos aussehend. Gutes Pflaster unter den Füßen, Asphalt auf der Fahrbahn, schaurig-schöne, elegante Vortreppen, die man hinaufsteigen konnte – und doch konnte ein Mensch den ganzen Tag und die ganze Nacht durch diese aufwendigen Straßen gehen und nach einer Brotrinde suchen. Das wollte mir nicht eingehen. Die Ungereimtheit daran! Wenn man nur mit einer Tischglocke auf die Straße hätte laufen und schreien können: „Hört, Leute, hört, ich habe Hunger. Wem soll ich die Schuhe putzen? Wem die Mülltonne raustragen? Wem die Abflussrohre reinigen?“ Wenn man nur auf die Straße hinausgehen und ihnen klar machen könnte. Aber nein, man wagt nicht, die Klappe aufzumachen. Wenn man jemandem auf der Straße sagt, dass man Hunger hat, macht er sich vor Schreck in die Hosen und rennt so rasch wie der Teufel davon. Das ist etwas, was ich nie verstanden habe. Ich verstehe es noch immer nicht. Das Ganze ist so einfach: man braucht nur Ja zu sagen, wenn jemand an einen herantritt. Und wenn man nicht Ja sagen kann, was hindert einen, ihn am Arm zu nehmen und einen anderen Vogel zu bitten, an deiner Stelle einzuspringen. Warum man eine Uniform anziehen und andere Menschen, die man nicht kennt, töten muss, nur um dieses Stück Brot aufzutreiben, bleibt für mich ein Rätsel. Darüber denke ich mehr nach als darüber, in welchen Mund das Brot wandert oder wieviel es kostet. Warum sollte ich mich überhaupt darum kümmern, was irgendetwas kostet? Ich bin zum Leben und nicht zum Rechnen hier. Und gerade das will diese Bande nicht – das man lebt! Sie wollen, dass man sein ganzes Leben damit verbringt, Zahlen zu addieren. Das hat Sinn für sie. Das ist vernünftig. Das ist klug. Wenn ich zu bestimmen hätte, wäre vielleicht nicht alles so geordnet, aber es wäre, bei Gott, lustiger. Man braucht sich nicht wegen Kleinigkeiten in die Hose zu machen. Vielleicht wären die Straßen nicht asphaltiert, und es gäbe keine Stromlinienautos, keine Lautsprecher und keine Millionenmilliarden technischer Errungenschaften; vielleicht gäbe es nicht einmal Scheiben in den Fenstern, vielleicht müsste man auf dem Boden schlafen, vielleicht gäbe es keine französische oder italienische oder chinesische Küche, vielleicht würden die Menschen einander umbringen, wenn ihre Geduld erschöpft war, und vielleicht geböte ihnen niemand Einhalt, weil es keine Gefängnisse, keine Polizisten und Richter gäbe, und sicherlich gäbe es keine Kabinettsminister oder Gesetzgeber, keine gottverdammten Gesetze, denen man gehorchen müsste oder gegen die man verstoßen könnte; vielleicht würde es Monate und Monate dauern, von einem Ort zum anderen zu gelangen, aber man brauchte kein Visum, keinen Pass, keine Carte d’identité, weil man nirgends registriert wäre, und man hätte keine Nummer, und wenn man Lust hätte, jede Woche seinen Namen zu ändern, könnte man das tun, weil es keinen Unterschied machen würde, denn man besäße nur was man bei sich tragen könnte, und warum zum Teufel sollte man etwas besitzen wollen, wenn alles kostenlos wäre?“
Wendekreis des Steinbocks, Henry Miller (1891-1980)

Der Blick auf das Leben

Michael Cunningham, Foto: © GNU Free Documentation Licence

„Ja, denkt Clarissa, es wird Zeit, dass der Tag zu Ende geht. Wir geben unsere Partys; wir verlassen unsere Familien, um in Kanada allein zu leben; wir plagen uns und schreiben Bücher, die die Welt nicht verändern, trotz unserer Gaben und unentwegten Bemühungen, unserer hochfliegenden Hoffnungen. Wir führen unser Leben, verrichten unsere Tätigkeiten, und dann schlafen wir – so einfach und so gewöhnlich ist das. Ein paar springen aus dem Fenster, ertränken sich oder nehmen Tabletten; ein paar sterben bei Unfällen; und die meisten von uns, die breite Masse, werden langsam von irgendeiner Krankheit verzehrt oder, wenn wir großes Glück haben, vom Zahn der Zeit. Und es gibt nur diesen einen Trost: eine Stunde hie und da, in der es uns wider alle Wahrscheinlichkeit und Erwartung so vorkommt, als schäume unser Leben über und schenke uns alles, was wir uns je vorgestellt haben, obgleich jeder, Kinder ausgenommen (und vielleicht sogar die ), weiß, dass auf diese Stunden unausweichlich andere folgen werden, die weitaus dunkler sind und schwerer. Dennoch ergötzen wir uns an der Stadt, dem Morgen; wir erhoffen uns, vor allem anderen, mehr davon.
Weiß der Himmel, wieso wir es so lieben.“
The Hours, Michael Cunningham (geb. 1952)

Erkenntnis eines Lehrers

Michel Houellbecq, Foto: © Stefan Bianka

„Ich bin zu nichts gut“, sagte Bruno resigniert. „Ich bin unfähig Schweine zu züchten. Ich habe keine Ahnung wie Würste, Gabeln oder Handys hergestellt werden. Ich bin unfähig, all die Gegenstände zu produzieren, die mich umgeben, die ich benutze oder verschlinge; ich bin nicht einmal dazu fähig ihren Herstellungsprozess zu begreifen. Wenn die Industrie zum Stillstand käme und die Ingenieure und Facharbeiter alle verschwinden würden, wäre ich unfähig, die Sache wieder in Gang zu bringen, ich wäre nicht einmal in der Lage für mein eigenes Überleben zu sorgen; ich wüsste nicht, wie ich mich ernähren, bekleiden und vor Unwettern schützen soll; meine persönlichen technischen Kompetenzen sind denen des Neandertalers weit unterlegen. Ich bin völlig abhängig von der Gesellschaft, die mich umgibt, und bin trotzdem so gut wie unnütz für sie; alles, was ich kann, beschränkt sich darauf zweifelhafte Kommentare über veraltete Kulturgüter abzugeben.“
Elementarteilchen, Michel Houellbecq (geb. 1958)

Drogen und das Empfinden des Lebens.

Donna Tartt, Foto: © Antonio Monda

„Boris hatte recht mit dem, was er über den Stoff gesagt hatte – wie rein er war. Rein weiß – eine normale Menge in der Nase ließ mich schielen, und für eine unbestimmte Zeit driftete ich wohlig am Rande des Todes hin und her. Städte, Jahrhunderte. Langsam glitt ich durch die Augenblicke, hinein und hinaus, wonnevoll, bei geschlossenen Vorhängen, Wolkenträume und sich entfaltende Schatten, eine Stille wie auf Jan Weenix´ prachtvollen Jagdstillleben, tote Vögel mit blutigen Federn, aufgehängt an einem Fuß, und in irgendeinem Blinken des Bewusstseins, das mir noch geblieben war, glaubte ich die geheime Pracht des Sterbens zu verstehen, all das Wissen, das der ganze Menschheit bis zum letzten Moment vorenthalten wird: kein Schmerz, keine Angst, prachtvoll losgelöst, aufgebahrt auf der Totenbarke und unterwegs in die großartige Unermesslichkeit, gleich einem Kaiser, dahin, dahin, mit einem Blick noch auf das ferne Wuseln am Ufer, befreit von all den alten menschlichen Belanglosigkeiten wie Liebe und Angst und Trauer und Tod.“
Der Distelfink, Donna Tartt (geb. 1963)

Die Literatur der Gegenwart bezeugt die Freiheit und Grenzenlosigkeit des menschlichen Geistes. Sie stellt aber auch den Leser vor eine unüberwindbare Flut an Möglichkeiten bei der Auswahl.
Euer Kultur Jack!

Beitragsbild: Pixabay

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !