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B(r)uchstücke der Literatur LXXVI – Jeder Mensch ist Philosoph

B(r)uchstücke der Literatur LXXVI – Jeder Mensch ist Philosoph

Ist jeder Schriftsteller auch ein Philosoph? Da ich der Meinung bin, dass jeder Mensch sich zeitweilig als Philosoph betätigt, würde ich diese Frage mit: „Unbedingt!“ bejahen. Literaten können ihren Vorstellungen und Fantasien freien Lauf lassen, und die Ergebnisse einer handelnden Person ihres Buches in den Mund legen. Das hat den großen Vorteil, dass der Autor seine Meinung nicht unbedingt verteidigen und dafür argumentieren muss, denn es bleibt immer die fiktive Meinung einer fiktiven Person. Wobei ich jedoch schon der Meinung bin, dass sich die Philosophien der Protagonisten der Geschichte, sich mit denen des Autors decken.

Philosophie der Freude am Dasein.

„Sei immer trunken. Auf nichts sonst kommt es an. Das ist das einzige. Wenn du die grauenvolle Bürde nicht der Zeit auf deinen Schultern fühlen willst, die dich zur Erde beugt, sei immer trunken.
Trunken von was? Von Wein, von Poesie oder von Tugend, wie immer du willst. Aber sei trunken.
Und wenn du manchmal, auf Stufen eines Palastes oder der grünen Seite des Deichs, in der düsteren Einsamkeit deines Zimmers vielleicht, du aufwachst, und die Trunkenheit ist halb oder ganz von dir gewichen, frage den Wind oder die Welle, den Stern, den Vogel oder die Uhr, frag, was immer fliegt, seufzt, schwingt, singt oder spricht, frag: wie viel Uhr ist es? Und alle: der Wind, die Welle, Stern, Vogel und die Uhr werden dir sagen: Es ist die Stunde trunken zu sein! Sei trunken, wenn ihr misshandelte Sklaven der Zeit nicht sein wollt; seid ewig trunken! Von Wein, von Poesie oder von Tugend, wie immer ihr wollt.“ (Charles Baudelaire)
Eines langen Tages Reise in die Nacht, Eugene O´Neill (1888-1953), (deutsch: Ursula und Oskar Fritz Schuh)

 

Was man vom Leben wissen und haben will.

Harry Mulisch, Foto: © Michiel Hendryckx

„Als er, nachdem er sich verabschiedet hatte, leise die Treppe hinaufging, überlegte er sich, dass es immer noch viel mehr über die Welt zu erfahren gab, als er wusste. Natürlich konnte man nicht alles wissen, und das war auch nicht nötig, aber viele Leute wussten vermutlich nicht einmal, was es alles zu wissen gab. Sie lebten und starben, ohne dass ihnen jemals irgendjemand erzählt hatte, dass es auch noch dieses und jenes zu wissen gab, was sie vielleicht gerne gewusst hätten. Aber wenn man einmal tot war, was machte es dann noch für einen Unterschied? Dann hätte man genauso gut nie geboren sein können. Die meisten Menschen wollten vielleicht gar nichts wissen, sondern nur reich werden oder viel essen oder sich Fußballspiele ansehen oder irgendetwas anderes. Oder sich küssen.“
Die Entdeckung des Himmels, Harry Mulisch (1927-2010), (deutsch: Martina den Hertog-Vogt)

Was vor uns war und nach uns kommt.

Robert Menasse, Foto: © Olaf Kosinsky

„Der Mensch kann vom Zeitpunkt seiner Geburt zurück und zurück und weiter zurück denken, ewig, ewig zurück, er wird zu keinem Anfang kommen und mit seinem läppischen Begriff von Zeit nur eines begreifen: Er ist, bevor er war, ewig nicht gewesen. Und er kann vorausdenken, vom Moment seines Todes an in alle Zukunft, er wird zu keinem Ende kommen; nur zu dieser Einsicht: Er wird ewig nicht mehr sein. Und das Zwischenspiel zwischen Ewigkeit und Ewigkeit ist die Zeit – das Lärmen, das Stimmengewirr, das Maschinengestampfe, das Dröhnen von Motoren, das Knallen und Krachen der Waffen, das Schmerzensgeschrei und die verzweifelten Lustschreie, die Choräle der wütenden und der freudig betrogenen Massen, das Donnergrollen und Angstkeuchen im mikroskopischen Terrarium der Erde.“
Die Hauptstadt, Robert Menasse (geb.1954)

Der Tod ist wohl die wichtigste Frage der Philosophen.

Michel de Montaigne, Foto: © archivio.formatione.unimib.it

„Chiron schlug die Unsterblichkeit aus, als er von Saturn, seinem Vater, dem Gott der Zeit und der Dauer, aufgeklärt wurde, welche Bewandtnis es mit ihr habe. Stell dir einmal ernsthaft vor, wieviel lästiger, ja unerträglicher als das von mir dem Menschen gegebene Leben ein ewiges für ihn wäre! Hättest du den Tod nicht, würdest du mich unablässig fluchend beschuldigen, ihn dir vorenthalten zu haben. Ich mengte ihm eigens ein wenig Wermut bei, um zu verhindern, dass du in Anbetracht seiner Vorzüge allzu gierig und bedenkenlos nach ihm greifst. Damit du zu der Selbstbeherrschung imstande seist (wie ich sie von dir verlange), weder das Leben zu fliehen noch vor dem Tod zurückzuweichen, gab ich beiden die rechte Mischung von Süße und Bitterkeit.
Ich lehrte dem Thales, den ersten eurer Weisen, dass Leben und Sterben einerlei sind; und so gab er auf die Frage, warum er dann nicht sterbe, ebendiese höchst weise Antwort: „Weil es einerlei ist.“
Wasser und Erde, Luft und Feuer sind mir wie die anderen Teile meines Weltgebäudes Werkzeug für deinen Tod nicht minder als für dein Leben. Warum fürchtest du einen letzten Tag? Er trägt keinen Deut mehr zu deinem Tode bei als jeder andere. Er erzeugt nicht deine Müdigkeit, er offenbart sie bloß. Alle Tage sind zum Tode unterwegs, der letzte – er langt an.“
Die Essais, Michel de Montaigne (1533-1592), (deutsch: Hans Stilett)

Philosophie hat auch Raum für Metaphysik.

Henry Miller, Foto: © proxy.handle.net

„Wenn wir von „Geschichte machenden Menschen“ sprechen, wollen wir damit sagen, dass sie in gewisser Weise den Lauf des Lebens geändert haben. Aber der Mann auf dem Bild neben mir ist über solche törichten Träume erhaben. Er weiß, dass der Mensch nichts ändert, nicht einmal sein eigenes Ich. Er weiß, dass der Mensch nur eines tun kann und dass das sein einziger Lebenszweck ist: nämlich die Augen der Seele zu öffnen! Ja, der Mensch hat diese Wahl: das Licht einzulassen oder die Läden geschlossen zu halten. Indem er seine Wahl trifft, handelt er. Das ist seine Aufgabe gegenüber der Schöpfung.
Öffnet die Augen weit, und die Unruhe muss sich legen. Und wenn die Unruhe sich legt, beginnt die wirkliche Musik.
Der aus seinen Nüstern Rauch und Feuer speiende Drache schnaubt nur seine Ängste aus. Der Drache bewacht nicht das Herz der Welt, er steht am Eingang zur Hölle der Weisheit. Nur in der unwirklichen Welt des Aberglaubens hat der Drache Wirklichkeit.“
Plexus, Henry Miller (1891-1980), (deutsch: Kurt Wagenseil)

Warum handeln wir, wie wir handeln?

Robert Musil, Foto: © viadellebelledonne.wordpress.com

„Was ist alles, was wir tun, anderes als eine nervöse Angst, nichts zu sein: von den Vergnügungen angefangen, die keine sind, sondern nur noch ein Lärm, ein anfeuerndes Geschnatter, um die Zeit totzuschlagen, weil eine dunkle Gewissheit mahnt, dass endlich sie uns totschlagen wird, bis zu den sich übersteigenden Erfindungen, den sinnlosen Geldbergen, die den Geist töten, ob man von ihnen erdrückt oder getragen wird, den angstvoll ungeduldigen Moden des Geistes, den Kleidern, die sich fortwährend verändern, dem Mord, Totschlag, Krieg, in denen sich ein tiefes Misstrauen gegen das bestehende und Geschaffene entlädt: was ist alles das anderes als die Unruhe eines Mannes, der sich bis zu den Knien aus einem Grab herausschaufelt, dem er doch niemals entrinnen wird, eines Wesen, das niemals ganz dem Nichts entsteigt, sich angstvoll in Gestalten wirft, aber an irgendeiner geheimen Stelle, die er selbst kaum ahnt, hinfällig und nichts ist?“
Der Mann ohne Eigenschaften, Robert Musil (1880-1942)

Fragen nach dem Wieso, Warum, Woher und Wohin sind wichtig, um sich ein eigenes Weltbild zu formen. Jedoch sein ganzes Leben der Philosophie zu widmen, würde bedeuten etwas zu hinterfragen, worauf man keine bewiesene Antwort erwarten kann. Ob es Sinn macht, so weit zu gehen?
Euer Kultur Jack!

Eingangsbild: Die Schule von Athen, Raffael 1510, Foto: © Pixabay

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !