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B(r)uchstücke der Literatur LXXV – Die Kindheit ist ein fernes Land, und doch immer nah.

B(r)uchstücke der Literatur LXXV – Die Kindheit ist ein fernes Land, und doch immer nah.

Kindheit – Land des Spiels, der Freude und der Träume. Wie sehr unser Leben durch diese Zeit geprägt wurde, erkennen wir erst im Rückblick. Mit jeder Faser deiner Existenz von deinen Eltern abhängig, kann es das Paradies oder die Hölle sein, und viele Erwachsene sind sich dieser Verantwortung nicht mal bewusst. Bücher können sehr hilfreich sein, denn durch fremde Erfahrungen ist es uns möglich, die Welt in der wir alle „kleine Menschen“ waren, besser zu verstehen und zu erforschen.

Das Kinderherz zu verlieren ist für jeden Menschen ein großer Verlust.

Charles Dickens, Foto: © Public Domain Pictures net

„Was gingen sie die Träume der Kindheit an – ihre luftgewobenen Märchen, ihre anmutigen, schönen, edlen, unmöglichen Ausschmückungen der Welt jenseits, an die man im Augenblick mit ebensoviel Freude glaubt, wie man sich im späteren Alter ihrer erinnert, denn dann erwächst die kleinste von ihnen zu einer großen Liebesbereitschaft im Herzen, die zulässt, dass die kleinen Kinder in dieses Herz einziehen und mit ihren reinen Händen einen Garten in der steinigen Wüste dieser Welt anlegen, in dem sich alle Kinder Adams öfter sonnen sollten, einfach und vertrauend und fern der Klugheit dieser Welt.“
Harte Zeiten, Charles Dickens (1812-1870), (deutsch: Julius Seybt)

 

Die Eltern lenken das Schiff des Lebens.

Thomas Hardy by William Strang, Foto: © National Portrait Gallery, London

„All diese jungen Seelchen waren Passagiere auf dem Schiff der Durbeyfields – in ihren Freuden, ihren Bedürfnissen, ihrer Gesundheit und selbst in ihrem Dasein gänzlich von den Entscheidungen der beiden erwachsenen Durbeyfields abhängig. Wenn es die Häupter des Durbeyfield – Haushaltes für gut befanden, in Not, Unheil, Hunger, Krankheit, Schmach oder Tod zu steuern, so war dieses halbe Dutzend kleiner Gefangener unter Deck gezwungen, mit ihnen mitzusegeln – sechs hilflose Geschöpfe, die man nie gefragt hatte, ob sie überhaupt leben wollten, und noch weniger, ob sie unter solch harten Bedingungen zu leben wünschten, wie sie die Zugehörigkeit zu dem allen Stürmen preisgegeben Hause Durbeyfield mit sich brachte. Mancher würde gerne wissen, woher der Dichter, dessen Philosophie in diesen Tagen für sehr profund und glaubwürdig gilt, da seine Verse rein und hochfliegend sind, woher er die Vollmacht nimmt, von den „heiligen Plänen der Natur“ zu sprechen.“
Tess von d´ Urberville, Thomas Hardy (1840-1928), (deutsch: Paul Baudisch)

 

Liebe und Wirken eines Vaters.

Jean Giono, Foto: © users.skynet.be

„Wenn ich mit so viel Liebe meines Vaters gedenke, wenn ich mich nicht von seinem Bild trennen kann, wenn die Zeit nichts darüber vermag, so darum, weil ich an meinen täglichen Erfahrungen immer wieder erkenne, was er alles für mich getan hat. Er hat als erster meine Sinnlichkeit begriffen. Er hat als erster mit seinen grauen Augen diese Sinnlichkeit gesehen, die mich trieb, eine Mauer zu berühren und mir die körnigen Poren einer Haut vorzustellen. Diese Sinnlichkeit, die mich hinderte, Musik zu treiben, weil ich den Rausch des Hörens höher schätzte als die Freude an der eigenen Geschicklichkeit, diese Sinnlichkeit, die aus mir einen von der Sonne durchdrungenen Wassertropfen machte, durchdrungen von den Farben und Formen der Welt; und der, gleich jenem Wassertropfen, in Wahrheit Form, Farbe, Klang und Sinn eingebrannt in seinem Fleisch trägt…
Er hat nichts in mir zerbrochen, nichts zerrissen, hat nichts in mir erstickt noch weggewischt mit seinem mit Speichel angefeuchteten Finger. Mit dem instinktiven Wissen eines Insekts hat er mir kleinen Larve die richtigen Mittel eingegeben: heute dies und morgen das; er hat mir Pflanzen, Bäume, Erde verabreicht, und Männer, Hügel und Frauen, er hat mir Schmerz und Güte und Stolz gegeben, alles das wie eine Arznei, in abgemessenen Portionen, alles in Voraussicht dessen, was möglicherweise eine Wunde hätte werden können. Er hat mir im Voraus einen heilsamen Verband für das gemacht, was eine Wunde hätte werden können, für das, was dank ihm, in mir zu einer ungeheuren Sonne geworden ist.“ (JEAN GIONO)
Die Kunst des Lesens, Henry Miller (1891-1980), (deutsch: Manfred Andrae)

 

Das Kind beschützen und nicht die eigene Weltsicht aufzwingen.

Robert Musil, Foto: © viadellebelledonne.wordpress.com

„Die Gegenwart kenne, hieß es, kein Recht der Jugend, denn bis zu seiner Volljährigkeit sei der Mensch so gut wie rechtlos. Vater, Mutter, Vormund könnten ihn kleiden, herbergen, nähren, wie sie wollten, züchtigen und nach Hans Seppens Ansicht zugrunde richten, soweit sie nur eine ferne Paragraphengrenze nicht überschritten, die dem Kind höchstens eine Art Tierschutz gewährt. Es gehöre den Eltern wie der Sklave dem Herrn und sei durch seine wirtschaftliche Abhängigkeit Eigentum, Objekt des Kapitalismus. Dieser „Kapitalismus am Kind“, dessen Darstellung Hans ursprünglich irgendwo erwähnt gefunden, dann aber selbst ausgebildet hatte, war das Erste, was er seiner erstaunten und bisher zu Hause recht wohlgeborgen gewesenen Schülerin Gerda beibrachte. Das Christentum habe nur das Joch des Weibes gemildert, nicht das der Tochter; die Tochter vegetiere, denn sie werde dem Leben mit Gewalt entfremdet: nach dieser Vorbereitung lehrte er sie das Recht des Kindes, seine Erziehung nach den Gesetzen seines eigenen Wesens aufzubauen. Das Kind sei schöpferisch, weil es Wachstum sei und sich selbst schaffe. Es sei königlich, weil es der Welt seine Vorstellungen, Gefühle und Phantasien vorschreibe. Es wolle von der zufälligen fertigen Welt nichts wissen, sondern baue seine eigene Welt der Ideale. Es habe seine eigene Sexualität. Die Erwachsenen begehen eine barbarische Sünde, indem sie das Schöpfertum des Kindes durch den Raub seiner Welt zerstören, unter herangebrachtem, totem Wissensstoff ersticken und auf bestimmte, ihm fremde Ziele abrichten. Das Kind sei unzweckhaft, sein Schaffen Spiel und zärtliches Wachsen; es nehme, wenn man es nicht durch Gewalt stört, nichts an, als was es wahrhaft in sich hineinnimmt; jeder Gegenstand, den es berührt, lebe, das Kind sei Welt, Kosmos, es sehe das Letzte, Absolute, wenn es das auch nicht ausdrücken kann; aber man töte das Kind, indem man es Zwecke begreifen lehre und es an das gemeine Jedesmalige fessle, dass man lügnerischerweise das Wirkliche nennt.“
Der Mann ohne Eigenschaften, Robert Musil (1880-1942)

 

Begegnungen in der Kindheit.
„Gestalten der Kindheit! Mehr als nur flüchtig begegnet, doch nicht versunken, vielmehr weiterlebend und teilhabend am eigenen Wesen wie Verwandte, Blutsverwandte, als die sich die Menschen einer Heimat erweisen, einbeschlossen in den Kreis, eingeprägt in die Art des eigenen Daseins, ob man es weiß und wahrhaben will oder nicht.“
Eine Kindheit in Böhmen, Josef Mühlberger (1903-1985)

Foto: © Kultur Jack

Kinder behüten, jedoch ihre Seelen unbeschrieben lassen.
„Die Umrisse des elterlichen Wollens und Fürchtens schreiben sich mit glühendem Griffel in die Seelen der Kleinen, die voller Ohnmacht sind und Unwissen darüber, was mit ihnen geschieht. Wir brauchen ein Leben lang, um den eingebrannten Text zu finden und zu entziffern, und wir können nie sicher sein, dass wir ihn verstanden haben.“
Nachtzug nach Lissabon, Pascal Mercier (geb. 1944)

Unsere eigenen Erfahrungen des Kindseins, aber auch diejenigen von Fremden, sollten nach langer Überlegung die Grundlagen dazu sein, das Wertvolle daran in der Linie weiterzugeben, sowie das Schädigende zu vermeiden.
Euer Kultur Jack!

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !