B(r)uchstücke der Literatur LIX – Frankreich schreibt
Gionos Welt erscheint dem heutigen Leser fremd, karg und beinahe unwirklich. Man findet sich wieder, umgeben von erdigen Menschenfiguren in archaischer Landschaft.
„Antonio hörte jetzt das Rauschen des Waldes. Sie hatten das Schweigen hinter sich gelassen; hier war das nächtliche Leben des Waldes. Es berührte die Ohren wie ein kalter Hauch; ein langanhaltendes, dumpfes Rauschen, ein Geräusch, gurgelnd, wie aus einer Kehle, ein tiefes, monotones Summen, wie aus einem offenen Munde. Es erfüllte die ganze Weite der Hügel, die mit Bäumen bewachsen waren; es füllte den Himmel und die Erde, wie das Rauschen des Regens; es kam von allen Seiten zu gleicher Zeit und wiegte sich gemächlich wie eine mächtige Woge und schnaubte durch die engen Täler. Als Unterton mischte sich in das Rauschen ein leises Blätterknistern, leise, wie huschende Rattenpfötchen. Manchmal brach es plötzlich los wie eine Rakete; es glitt an den Zweigen empor und man hörte es klatschend aufschlagen, wie Tropfen, die durch das Laub herabfallen. Seufzend stiegen die Säfte von der Erde auf und in den Stämmen empor, bis da hinauf, wo sich die breiten Äste teilten.“
Das Lied der Welt, Jean Giono (1895-1970), (deutsch: Ruth Gerull-Kardas)
Michel de Montaigne gab 1571, im Alter von 38 Jahren, sein Richteramt auf, zog sich auf sein Schloss zurück und schrieb bis zu seinem Tod 1592 ungefähr 107 Essais über die verschiedensten Themen. Durch seinen Schreibstil begründete er das „Literarische Essai“.
„Glücklich, wer seine Bedürfnisse auf so angemessene Weise geregelt hat, dass seine Reichtümer zu deren Befriedigung genügen, ohne dass er sich eigens darum kümmern müsste und die lästige Beschäftigung mit deren Erwerb und Verwendung andre, ruhigere Tätigkeiten beeinträchtigte, denen er nachgeht und die passender für ihn sind, weil sie ihm mehr am Herzen liegen!
Wohlstand und Bedürftigkeit hängen also von der Einstellung jedes einzelnen ab; und dem Reichtum eignet nicht anders als dem Ruhm und der Gesundheit nur so viel Schönheit und Annehmlichkeit, wie derjenige ihm beimisst, der sie besitzt. Jedem geht es allein nach Maßgabe seines Befindens gut oder schlecht. Zufrieden ist nicht der, von dem man es glaubt, sondern wer es von sich selber glaubt. In diesen Dingen schafft sich allein der Glaube Wahrheit und Wirklichkeit.
Unser Wohl und Wehe ist nicht das Werk des Schicksals; es liefert nur den Stoff dazu, die Saat, die unsere Seele, mächtiger als dieses, so verwendet und aufgehen lässt, wie es ihr gefällt. Sie ist die alleinige Schöpferin und Herrin ihres Glücks oder Unglücks.
Was von außen hinzukommt, bezieht Geschmack und Farbe von unserer inneren Beschaffenheit, so wie die Kleider uns nicht mit ihrer eigenen Wärme, sondern der unsern wärmen, die sie lediglich zu dämmen und zu speichern vermögen. Wer einen kalten Körper in sie hüllte, dem würden sie den gleichen Dienst für die Kälte leisten; auf diese Weise konserviert man ja Schnee und Eis.“
Ob wir etwas als Wohltat oder Übel empfinden, hängt weitgehend von unserer Einstellung ab, Die Essais, Michel de Montaigne (1533-1592), (deutsch: Hans Stilett)
Der Flug der Zeit.
„Theoretisch weiß man, dass die Erde sich dreht, in Wirklichkeit aber merkt man es nicht; der Boden, auf dem man schreitet, scheint sich nicht zu rühren, und so lebt man ruhig dahin. Ebenso aber ist es im Leben mit der Zeit. Um ihren Flug uns bewusst zu machen, haben die Romanschriftsteller nötig, den Lauf des Zeigers stark zu beschleunigen und den Leser zehn, zwanzig, dreißig Jahre in zwei Minuten durchmessen zu lassen. Oben auf der Seite hat man sich von einem hoffnungsvollen Liebhaber getrennt, und unten auf der nächsten findet man einen Achtzigjährigen wieder, der auf dem kleinen grasbestanden Hof eines Altersheims mühselig seinen täglichen Spaziergang absolviert und dabei kaum auf die an ihn gerichteten Fragen Rede stehen kann, da er das Vergangene längst vergessen hat. Dadurch, dass mein Vater von mir sagte: „Er ist kein Kind mehr, seine Neigungen werden sich nicht mehr ändern“ hatte er mir mit einem Schlage mich selbst als in der Zeit existierend gezeigt und mich in die gleiche Art von Trauer gestürzt, als sei ich, wenn auch noch nicht gerade der vertrottelte Hospitalinsasse, so doch einer jener Helden, von denen der Autor in dem gleichgültigen Ton, der so besonders grausam ist, am Ende eines Buches sagt: „Kaum noch einmal verlässt er sein Dorf. Er hat sich dort für immer zur Ruhe gesetzt“, oder dergleichen mehr.“
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Im Schatten junger Mädchenblüte, Marcel Proust (1871-1922), (deutsch: Eva Rechel-Mertens)
Ein Mann und eine Frau.
„Im undurchsichtigen Wohnsitz dieses Körpers, gleichsam eingemauert, wartete ohne Zweifel eine Seele, dass ein Strahl deiner Gnade, o Herr, sie endlich berühre. Wirst du mir verstatten, diese schreckliche Nacht kraft meiner Liebe vielleicht von ihr zu nehmen?
Ich bin zu sehr um die Wahrheit besorgt, als dass ich den verdrießlichen Empfang, den ich bei meiner Rückkehr zu Hause über mich ergehen lassen musste, verschweigen könnte. Meine Frau ist ein Tugendgarten; selbst in den schwierigen Augenblicken, die wir bisweilen durchzumachen hatten, lag nie der geringste Anlass vor, an ihrem guten Herzen zu zweifeln; aber ihre natürliche Barmherzigkeit lässt sich ungern überrumpeln. Sie hält auf Ordnung und neigt genauso wenig dazu, über ihre Pflichten hinauszugehen, als sich einer Unterlassung schuldig zu machen. Ja, ihre Barmherzigkeit selber ist sorgsam geregelt, als wäre die Liebe ein Schatz, der sich erschöpfen kann. Hierin besteht unsere einzige Meinungsverschiedenheit..
Die Pastoralsymphonie, Andre Gide (1869-1951), (deutsch: Bernard Guillemin)
Der bedeutende „Urwald“ – Arzt, Philosoph und Pazifist Albert Schweitzer und sein Verhältnis zur Tierwelt.
„Besonders befremdlich findet man an der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, dass sie den Unterschied zwischen höherem und niedererem, wertvollerem und weniger wertvollem Leben nicht geltend mache. Sie hat ihre Gründe, dies zu unterlassen.
Das Unternehmen, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen zu statuieren, läuft darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserem Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen, was ein ganz subjektiver Maßstab ist. Wer von uns weiß, was das andere Lebewesen an sich und in dem Weltganzen für eine Bedeutung hat?
Im Gefolge dieser Unterscheidung kommt dann die Ansicht auf, dass es wertloses Leben gäbe, dessen Schädigung und Vernichtung nichts auf sich habe. Unter wertlosem Leben werden dann, je nach den Umständen, Arten von Insekten oder primitive Völker verstanden.
Dem wahrhaft ethischen Menschen ist alles Leben heilig, auch das, das uns vom Menschenstandpunkt aus als tiefer stehend vorkommt. Unterschiede macht er nur von Fall zu Fall und unter dem Zwange der Notwendigkeit, wenn er nämlich in die Lage kommt, entscheiden zu müssen, welches Leben er zur Erhaltung des anderen zu opfern hat. Bei diesem Entscheiden von Fall zu Fall ist er sich bewusst, subjektiv und willkürlich zu verfahren und Verantwortung für das geopferte Leben zu tragen zu haben.
Ich freue mich über die neuen Schlafkrankheitmittel, die mir erlauben, Leben zu erhalten, wo ich früher qualvollem Siechtum zusehen musste. Jedes Mal aber, wenn ich unter dem Mikroskop die Erreger der Schlafkrankheit vor mir habe, kann ich doch nicht anders, als mir Gedanken darüber zu machen, dass ich dieses Leben vernichten muss, um anderes zu erretten.
Ich kaufe Eingeborenen einen jungen Fischadler ab, den sie auf einer Sandbank gefangen haben, um ihn aus ihren grausamen Händen zu erretten. Nun aber habe ich zu entscheiden, ob ich ihn verhungern lasse oder ob ich täglich soundso viele Fischlein töte, um ihn am Leben zu erhalten. Ich entschließe mich für das letztere. Aber jeden Tag empfinde ich es als etwas Schweres, dass auf meine Verantwortung hin dieses Leben dem anderen geopfert wird.
Mit der gesamten Kreatur unter dem Gesetz der Selbstentzweiung des Willens zum Leben stehend, kommt der Mensch fort und fort in die Lage, sein eigenes Leben wie auch Leben überhaupt nur auf Kosten von anderem Leben erhalten zu können. Ist er von der Ethik vor der Ehrfurcht vor dem Leben berührt, so schädigt und vernichtet er Leben nur aus Notwendigkeit, der er nicht entrinnen kann, niemals aus Gedankenlosigkeit. Wo er ein Freier ist, sucht er nach Gelegenheit, die Seligkeit zu kosten, Leben beistehen zu können und Leid und Vernichtung von ihm abzuwenden.
Dass die universelle Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, das so vielfach als Sentimentalität hingestellte Mitleid mit dem Tiere als etwas, dem sich kein denkender Mensch entziehen könne, erweist, bereitet mir, der ich von Jugend auf der Tierschutzbewegung zugetan war, eine besondere Freude. Die bisherige Ethik stand dem Problem Mensch und Tier entweder verständnislos oder ratlos gegenüber. Auch wenn sie das Mitleid mit der Kreatur als richtig empfand, konnte sie es nicht unterbringen, weil sie ja eigentlich nur auf das Verhalten des Menschen zum Menschen eingestellt war.
Wann wird es dahin kommen, dass die öffentliche Meinung keine Volksbelustigungen mehr duldet, die in Misshandlungen von Tieren bestehen!
Die in dem Denken entstehende Ethik ist also nicht „verstandesgemäß“, sondern irrational und enthusiastisch. Sie steckt keinen klug abgemessenen Kreis von Pflichten ab, sondern legt dem Menschen die Verantwortung für alles Leben, das in seinem Bereich ist, auf und zwingt ihn, sich ihm helfend hinzugeben.“
Aus meinem Leben und Denken, Albert Schweitzer (1875-1965)
Frankreich hat nicht nur auf dem Gebiet der bildenden Künste Meilensteine gesetzt, denn auch die Literaten dieses Landes bilden einen Eckpfeiler europäischer Kultur und geistvoller Schönheit.
Euer Kultur Jack!
Beitragsbild: Paris, Foto: © Pixabay