B(r)uchstücke der Literatur LXIII – Das 19. Jahrhundert
Das 19. Jahrhundert war von drei Stilrichtungen geprägt: Romantik, Realismus und die beginnende Moderne. Der einschneidende Weg vom Handwerk zur Industrialisierung veränderte rigoros die Themen und Stile der Schreibenden.
Ahnung und Prophetie im Biedermeier.
„Wir arbeiten an einem besonderen Gewichte der Weltuhr, das den Alten, deren Sinne vorzüglich auf Staatsdinge, auf das Recht und mitunter auf die Kunst ging, noch ziemlich unbekannt war, an den Naturwissenschaften. Wir können jetzt noch nicht ahnen, was die Pflege dieses Gewichts für einen Einfluss haben wird auf die Umgestaltung der Welt und des Lebens. Wir haben zum Teil die Sätze dieser Wissenschaften noch als totes Eigentum in den Büchern oder Lehrzimmern, zum Teil haben wir sie erst auf die Gewerbe, auf den Handel, auf den Bau von Straßen und ähnlichen Dingen verwendet, wir stehen noch zu sehr in dem Brausen dieses Anfangs, um die Ergebnisse beurteilen zu können, ja wir stehen erst ganz am Anfang des Anfanges. Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können, wenn wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können? Werden die Güter der Erde da nicht durch die Möglichkeit des leichten Austauschens gemeinsam werden, das allen alles zugänglich ist? Jetzt kann sich eine kleine Landstadt und ihre Umgebung mit dem, was sie hat, was sie ist und was sie weiß, absperren; bald wird es aber nicht mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden. Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der Geringste wissen und können muss, um vieles größer sein als jetzt. Die Staaten, die durch die Entwicklung des Verstandes und durch Bildung sich dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum, Macht und Glanz vorausschreiten, und die anderen sogar in Frage stellen können. Welche Umgestaltungen wird aber erst auch der Geist in seinem ganzen Wesen erlangen? Diese Wirkung ist bei weitem die wichtigste. Der Kampf in dieser Richtung wird sich fortkämpfen, er ist entstanden, weil neue menschliche Verhältnissen eintraten, das Brausen, von welchem ich sprach, wird noch stärker werden, wie lange es dauern wird, welche Übel entstehen werden, vermag ich nicht zu sagen; aber es wird eine Abklärung folgen, die Übermacht des Stoffes wird vor dem Geiste, der endlich doch siegen wird, eine bloße Macht werden, die er gebraucht, und weil er einen neuen menschlichen Gewinn gemacht hat, wird eine Zeit der Größe kommen, die in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Ich glaube, dass so Stufen nach Stufen in Jahrtausenden erstiegen werden. Wie weit das geht, wie es werden wie enden wird, vermag ein irdischer Verstand nicht zu ergründen. Nur das scheint mir sicher, andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr auch das, was dem Geiste und dem Körper des Menschen als letzter Grund innewohnt, beharren mag.
Der Nachsommer, Adalbert Stifter (1805-1868)
Thoreau lebt zwei Jahre allein und selbständig, jedoch nicht komplett abgeschieden, in einer selbsterbauten Hütte in freier Natur am Walden – See. Er war der erste Aussteiger der Geschichte, der seine Erlebnisse literarisch zu Papier brachte.
„Unsere Geselligkeit ist im Allgemeinen zu billig. Wir treffen einander in viel zu kurzen Zeitabständen, lassen uns nicht die Zeit, neuen Wert füreinander zu gewinnen. Wir treffen uns dreimal am Tag zu den Mahlzeiten und geben uns gegenseitig Kostproben von dem ranzigen Stück Käse, das wir sind. Wir müssen uns auf bestimmte Regeln, Etikette und Höflichkeit genannt, einigen, um unsere häufigen Zusammenkünfte erträglich zu gestalten und es nicht zum offenen Krieg zwischen uns kommen zu lassen. Wir treffen uns auf dem Postamt, bei gesellschaftlichen Anlässen und abends am Kamin. Wir leben so dicht nebeneinander, dass wir uns im Wege sind und übereinander stolpern. Dadurch verlieren wir meiner Ansicht nach an gegenseitiger Achtung. Ein selteneres Beisammensein würde bei allem wertvollen und herzlichen Umgang entschieden genügen. Denken wir doch an die Fabrikmädchen – nie sind sie allein, kaum in ihren Träumen. Es wäre besser, es gebe nur einen Einwohner je Quadratmeile, so wie hier, wo ich lebe. Der Wert des Menschen liegt nicht an der Oberfläche, die körperliche Nähe bringt uns einander nicht näher.“
Walden, Henry David Thoreau (1817-1862), (deutsch: Erika Ziha)
Das ereignisreiche Jahr im kurzen Überblick.
„Das Jahr hat dreihundertfünfundsechzig Tage – und was geht vor in dieser Spanne Zeit! Das Ungeheuerste geschieht. Eine sechzehn Stunden lange Nacht und wenige Monde später ein sechzehn Stunden langer Tag. Und in diesem Ring ein zartes Keimen, ein leuchtendes Blühen, ein üppiges Reifen, ein müdes Sinken, ein totes Starren. Welch langer Zeit des lachenden Grüns, welch lange Zeit des ernsten Erwartens und doch alles innerhalb eines kurzen Jahres!“
Erdsegen, Peter Rosegger (1843-1918)
Die Liebe gleicht sich in allen Jahrhunderten.
Ich hatte meinerzeit das Herz auch einen Muskel und ein mechanisches Pumpwerk nennen gelernt; nun unterlag ich dennoch der Täuschung, dass es das Wohnhaus der Bewegungen sei, die von den Liebeshändeln ausgehen; und trotz der üblichen Scherze über seine heraldische Form auf den Lebkuchen, Spielkarten und anderen Volkssymbolen behauptete es sein altes Ansehen, als Dorotheas Gestalt mit dem Nimbus ihrer dunklen Geburt, ihrer eigentümlichen Weltanschauung, Schönheit und Bildung den Einzug scheinbar in das Herz und nicht in den Kopf hielt; oder wenigstens verrichtete dieser in seinen offenen Licht- und Schallstübchen einen bloßen Pförtner- und Wahrnehmungsdienst, um das Wahrgenommene in die dunkle Purpurmühle der Leidenschaft hinunterzusenden.
Der grüne Heinrich, Gottfried Keller (1819-1890)
Der Zauber der Bühne.
„Ich entschied mich für das Covent- Garden- Theater und sah von einer Mittelloge aus Julius Cäsar und die neue Pantomime. Es war ein neuer, großartiger Eindruck, all die edlen Römer lebendig vor mir auf der Bühne zu meiner Unterhaltung zu sehen, während sie in der Schule nur Mühen und Qualen bedeuteten. Aber die Mischung von Wirklichkeit und Märchen auf der Bühne und der Eindruck, den die Poesie, der Lichterglanz, die Musik, die Gesellschaft, der wunderbare Wechsel herrlicher Szenen auf mich machten, waren so blendend und erfüllten mich mit so grenzenloser Wonne, dass ich, als ich um Mitternacht auf die regennasse Straße trat, wie aus Zauberwolken, in denen ich jahrhundertelang gelebt, in eine schreiende, spritzende, fackelerhellte, in Regenschirmen dahineilende, um Droschken zankende, holzschuhklappernde, schlammige, elende Welt hinabzusteigen schien.
David Copperfield, Charles Dickens (1812-1870), (deutsch: Josef Thanner)
Die Einsamkeit der Nacht.
„Da nimm dir ein Exempel darin“, fuhr er fort, „Wälder und Berge stehen nachts in Gedanken, da soll der Mensch sich auch bedenken. Alle weltliche Lust, Hoheit und Pracht, die Nacht hat alles umgeworfen, die wunderbare Königin der Einsamkeit, denn ihr Reich ist nicht von dieser Welt. Sie steigt auf alle Berge und stellt sich auf die Zinnen der Schlösser und schlägt mahnend die Glocken an, aber es hört es niemand als die armen Kranken und niemand hört die Gewichte der Turmuhr schnurren und den Pendel der Zeit gehen in der stillen Stadt. Der Schlaf probiert heimlich den Tod und der Traum die Ewigkeit.
Die Glücksritter, Joseph von Eichendorff (1788-1857)
Auch wenn im 19. Jahrhundert große Umwälzungen ihre Schatten vorauswarfen, war es doch eine literarische Epoche der Schönheit und Poesie.
Euer Kultur Jack.
Beitragsfoto: Pixabay