Seite auswählen

B(r)uchstücke der Literatur LXXIII – Wahrnehmung des Lebens

B(r)uchstücke der Literatur LXXIII – Wahrnehmung des Lebens

Da kein Menschenleben einem anderen gleicht, sind auch die Auffassungen und Erkenntnisse, die man in seiner Existenz gewinnt, sehr unterschiedlich. Durch Bücher haben wir die Möglichkeit verschiedenste Sichtweisen kennenzulernen und sie der Prüfung zu unterziehen, ob sie für unser eigenes Leben taugen. Falls sie das nicht tun, ist es ein Leichtes sie in die Vergessenheit sinken zu lassen, ohne jeglichen Verlust zu erleiden.

 

Ein ungewöhnlicher Blick auf Fotografien.

Antonia S. Byatt, Foto: © Fred Ernst

„Roland Barthes hatte recht, als er in seinem Buch über das Fotografieren sagte, es habe vor allem mit dem Tod zu tun. Barthes zufolge sagt eine Fotografie, dass dieses Geschöpf lebendig war und tot sein wird. Sein Buch ist eine verdeckte Elegie auf seine Mutter, die Fotografie, um die es ihm geht (und die er nicht zeigt) ist ein Bild aus ihrer Kindheit, als es sie gab und ihn nicht. Aus der Zeit vor seiner Lebenszeit. Ich glaube, sein Leben endete, abgeschnitten durch einen Wäschelieferwagen, bevor es ihm möglich gewesen wäre, die quälenden und erbarmungslosen fotografischen Aufzeichnungen zu sehen, die ein dänischer Fotograf von den letzten Tagen seiner Mutter anfertigte, von ihrem wehmütigen Blick bei ihrer Ankunft im Krankenhaus, ahnungsvoll und (teilweise) resigniert, bis zu ihrem zusammengekrümmten, fetalen, mumienhäutig – ledrigen Endzustand. Alles Schreiben über Fotografien, auch das, mit dem ich soeben beschäftigt bin, hat etwas vom Verfall (dekadent) an sich, etwas Abscheuerregendes. Niemand (außer in gewissem Maße Barthes) hat je das Grauen begriffen, das diesen Momenteindrücken von Licht und Schatten auf Gelatine innewohnt (Hiroshima hat uns erlaubt, in Form eines schnell gewonnenen Klischees zu sehen, was es heißt, den eigenen Schatten gestochen scharf dort vorzufinden, wo man sich in Luft aufgelöst hat). Das Grauen von Spiegeln ist nichts neben dem Grauen von Fotografien. Es hat auch damit zu tun, dass das schwarze Loch hinter der Blende die Identität fortnimmt oder aufsaugt, wie es primitive Völker glauben. Abzwacken. Klicken. Zähne. Revolvertrommel. Ich hasse Fotografien. Destry – Scholes hat sie gesammelt, möglicherweise weil auch er sie hasste. Ich fand seine Sammlung grauenerregend. All diese Augen waren so tot wie präparierte Fische.“

Das Geheimnis des Biographen, Antonia S. Byatt (geb.1936), (deutsch: Melanie Waltz)

 

Schönheit ist überall.

Henry Miller, Foto: © proxy.handle.net

„Eines Tages sagte er…,Alles in allem besteht das eigentlich Wichtige darin, dass keine besondere Naturschönheit – weder die Alpen, die Niagarafälle, das Yosemitetal noch irgend etwas anderes – großartiger und schöner ist als ein gewöhnlicher Sonnenaufgang und –untergang, als Erde und Himmel, als einfache Bäume und Gräser. Richtig verstanden, umreißt dies für mein Empfinden die eigentliche Lehre seiner Schriften und seines Lebens – das nämlich das Alltägliche das Großartigste von allen Dingen ist; dass das Außergewöhnliche in keiner Hinsicht feiner, besser oder schöner ist als das Gewöhnliche und dass wahrhaft wünschenswert nicht wäre, dass wir etwas besitzen, was wir im Augenblick nicht haben, sondern dass unsere Augen sehen und unsere Herzen fühlen lernen, was wir alles besitzen.“

Die Kunst des Lesens, Henry Miller (1891-1980), (deutsch: Manfred Andrae)

 

Der Mensch und seine kleine Welt.

„Es ist ein Grundzug der Kultur, dass der Mensch, dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste misstraut, also dass nicht nur ein Germane einen Juden, sondern auch ein Fußballspieler einen Klavierspieler für ein unbegreifliches und minderwertige Wesen hält. Schließlich besteht ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umgebung; ohne den Papst hätte es keinen Luther gegeben und ohne die Heiden keinen Papst, darum ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die tiefste Anlehnung des Menschen an seinen Mitmenschen in dessen Ablehnung besteht.“

Der Mann ohne Eigenschaften, Robert Musil (1880-1942)

Roberrt Musil, Foto: © viadellebelledonne.files.wordpress.com

 

Hysterie um Prominente ist nicht notwendig.

„Genie ist nicht Verdienst, sondern Glücksfall. Verdienst erwirbt sich der Begnadete dadurch, dass er sein Genie nicht für sich behält, sondern mit ihm beiträgt zu Nutz und Freude der Lebenden. Sehr sonderbar eigentlich, dass man einen Menschen feiert, weil er, als er wurde, die Götter bei Geberlaune fand. Aber, genau besehen, gilt wohl das Lob den Lobenden, die im Individuum die Gattung rühmen und sich etwas darauf zugutetun, dass einer ihresgleichen so Großes imstande war.“

Im Laufe der Zeit, Pere Lachaise, Alfred Polgar (1873-1955)

Alfred Polgar, Foto: © Kultur Jack

 

Zu diesem Thema gibt es viele Meinungen, die Entscheidung darüber, sollte jedoch der Betroffenen vorbehalten bleiben.

Alfred Hrdlicka, Foto: © Martina Judt

„Dies mag meine Vorliebe für Canetti, Levi Strauss oder die Bibel erklären, aber ich bin drauf gekommen, dass selbst der §144 (in meinen frühesten Ölbildern, zum Beispiel “Der Krieg im fernen Osten“, finden sich Anspielungen darauf) mich nicht allein wegen seiner praktischen Schattenseiten interessiert, sondern in erster Linie wegen seiner „theoretischen Fleischbesessenheit“, die dem Anhängsel Leibesfrucht mehr Recht auf Selbstverwirklichung zuerkennt als dem ausgewachsenen Individuum, der Mutter. Es hat den Anschein, dass „Nur – Fleisch – Sein“ mehr zählt als Bewusstsein. Dass der ganze Komplex der Gerichtsbarkeit entzogen und dem Gesundheitswesen zugeordnet werden wird, darf man wohl hoffen, der weltweite Aspekt Überbevölkerung wird stärker sein als ideologische Argumente, aber noch bestehen theoretische und praktische Kompromisslösungen, die sich selbst ad absurdum geführt haben. Abgesehen von der „schreienden Ungerechtigkeit“ – Privileg auf Abtreibung besaßen schon immer die über Geld und Beziehung Verfügenden -, wird die offizielle Rechtsprechung von jenen, die von Mord im Mutterleib und Mord an ungeborenem Leben sprechen, nicht zur Sühnung eines Verbrechens, sondern zur Befriedigung eines ideologischen Bedürfnisses eingesetzt, indem man auf prinzipieller Bestrafung besteht, die Untat selbst aber nur verbal dem Mord gleichgestellt und nicht als Schwerverbrechen abgestraft, obgleich ein Embryo immer gemeuchelt wird, Notwehrüberschreitung, fahrlässige Tötung oder Totschlag schließen sich von selbst aus. Die Frage lautet: Geht es jetzt wirklich um den Tod eines Menschen oder um die Beseitigung einer kleinen Portion Menschenfleisch mit einer proportional angepassten Seele, denn allein durch die Strafbemessung wird ein Delikt konstruiert, das es, genau genommen, gar nicht gibt, der Minimord, dessen Rechtsfolgen unverblümt nur dazu angetan sind, einer Ideologie Genüge zu tun, nicht aber – wenn man das Ganze ernst nimmt – der ermordeten Fiktion Mensch gerecht zu werden.“

Schaustellungen, Alfred Hrdlicka (1928-2009)

 

Die Welt spricht zu dir.

„Auch meine Spaziergänge waren mit Unfruchtbarkeit geschlagen; früher konnte mich ein Nichts für den ganzen Tag glücklich machen: ein wenig Sonnengold auf dem Rasen, der Duft der Blätter unter den letzten Regentropfen, nun hatte all dies für mich seine Süße und seine Heiterkeit verloren. Wälder, Himmel, Gewässer schienen sich von mir abzuwenden. Blieb ich allein mit ihnen, Angesicht zu Angesicht, dann stellte ich ängstliche Fragen an sie, aber sie flüsterten mir nicht ihre rätselhaften Antworten entgegen, die mich einst entzückt hatten. Die himmlischen Gäste, welche aus den Wassern, aus dem Laubwerk, aus dem Himmelrund sprechen, würdigen ihres Besuches nur die Herzen, die in sich selbst ruhen und die geläutert sind.“

Tage der Freude, Die Beichte eines jungen Mädchens, Marcel Proust (1871-1922), (deutsch: Ernst Weiss)

Marcel Proust, Foto: © enlenguapropia.files.wordpress.com

 

Auch wenn man keine einzige der hier vorgestellten Anschauungen teilt, ist es trotzdem interessant sie kennenzulernen, denn dann weiß man, wie man nicht ist.

Euer Kultur Jack!

Beitragsbild: Pixabay

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !