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B(r)uchstücke der Literatur XXVI – Wo das Leid herrscht, dort ist geweihte Erde

B(r)uchstücke der Literatur XXVI – Wo das Leid herrscht, dort ist geweihte Erde

Ende des 19. Jahrhunderts wurde Oscar Wilde wegen Homosexualität zu 2 Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt. Das damalige britische Resozialisierungsprogramm sah für Gefangene vor: Arbeit in einer Tretmühle, Einzelhaft, Redeverbot (bei Nichteinhaltung Dunkelhaft), Verbot einander anzusehen (Hofgang mit Kapuze, welche das ganze Gesicht bedeckte), Zellenfenster mit Milchglas in der Größe von Schießscharten. 1897 wurde Wilde als menschliches Wrack entlassen und starb 3 Jahre später im Pariser Exil.
Im Zuchthaus schrieb der Poet einen 50.000 Wörter umfassenden Brief an seinen ehemaligen Liebhaber und Grund seiner Inhaftierung, Lord Alfred Douglas, den er, nach Psalm 130, „De Profundis“ betitelte.

Foto: © Pixabay

„Wo das Leid herrscht, dort ist geweihte Erde. Eines Tages wirst du begreifen, was das heißt. Bis dahin, weißt du nichts vom Leben. Als ich zwischen zwei Polizisten aus dem Zuchthaus zum Konkursgericht geführt wurde, wartete Robbie auf dem langen, düsteren Korridor, nur um im Angesicht einer Menge, die vor einer so freundlichen und schlichten Tat ehrfürchtig verstummte, ernst vor mir den Hut zu ziehen, als ich in Handschellen und gesenkten Hauptes an ihm vorüber ging. Um geringerer Verdienste willen sind Menschen in den Himmel gekommen. In dem gleichen Geiste, in der gleichen Liebe knieten die Heiligen nieder, um den Armen die Füße zu waschen, beugten sich zur Wange des Aussätzigen, um sie zu küssen. Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen. Ich weiß bis zum heutigen Tage nicht, ob er ahnt, dass ich es überhaupt bemerkt habe. Es ist unmöglich, dafür in förmlichen Worten einen förmlichen Dank auszusprechen. Ich bewahre es in der Schatzkammer meines Herzens. Ich betrachte es als eine heimliche Schuld und freue mich, dass ich sie wohl nie werde begleichen können. In ihrer ganzen Lieblichkeit frisch erhalten durch Myrrhe und Cassia vieler Tränen. Als die Weisheit mir nichts nützte, die Philosophie mir nicht fruchtete, und die Sprüche und Reden derer, die mich zu trösten suchten, in meinem Mund wie Staub und Asche waren, da hat bei mir der Gedanke an diesen kleinen, demütigen, stummen Akt der Liebe bewirkt, dass alle Brunnen des Mitleids wieder flossen, dass die Wüste aufblühte wie eine Rose, dass ich aus der Bitternis meines einsamen Exils in die Harmonie mit dem wunden, gebrochenen und großen Herzen der Welt fand. Sobald du nicht nur verstehst, wie schön Roberts Tat war, sondern auch warum sie mir so viel bedeutete und mir in aller Zukunft bedeuten wird, wird dir klar werden, wie und in welchem Geist du mich um die Erlaubnis hättest bitten müssen, mir deine Verse widmen zu dürfen.“
De Profundis, Oscar Wilde (1854-1900) 

Alle drei Bronté-Schwestern mussten unter männlichen Pseudonymen schreiben, da sie sonst, zu ihrer Zeit, keine Verleger gefunden hätten.

Foto: © Public Domain

„Mein Lebensmut war seit langem immer mehr gesunken. Nun, da ihm die Stütze der Beschäftigung weggezogen worden war, fiel er rasch in sich zusammen. Und selbst wenn ich weiterblickte, half mir das nicht hoffen. Die Zukunft blieb stumm. Sie sprach mir keinen Trost zu, bot kein Versprechen, spornte mich nicht an, die schwere Gegenwart im Vertrauen auf künftige Besserung zu ertragen. Oft lastete auf mir eine traurige Gleichgültigkeit dem Dasein gegenüber, ein verzweifelter Wunsch, bald ein Ende aller irdischen Dinge zu erreichen. Ach! Wenn ich die volle Muße hatte, das Leben so zu betrachten, wie meinesgleichen es betrachten musste, dann sah ich es nur als eine hoffnungslose Wüste: braungelbe Sandmassen, kein grünes Feld, kein Palmenbaum, keine Quelle, soweit ich blickte. Die Hoffnungen, die der Jugend teuer sind, die sie tragen und weiterführen – ich kannte sie nicht und fürchtete mich davor, sie zu kennen. Manchmal klopften sie an mein Herz. Dann musste innen ein ungastlicher Riegel vorgelegt werden, der sie aussperrte. Wandten sie sich, so fortgestoßen ab, dann flossen zuzeiten genug bittere Tränen. Aber da war nichts zu tun. Ich wagte es nicht solchen Gästen Obdach zu gewähren. Zu tödlich fürchtete ich die Sünde und Schwäche der Vermessenheit.
Gottesfürchtiger Leser, Sie werden mir eine lange Predigt über das, was ich eben geschrieben habe, halten, und das gleiche werden Sie tun, Moralist, und Sie, gestrenger Weiser, Sie, der Stoiker, werden die Stirn runzeln, Sie, der Zyniker, werden hohnlächeln, und Sie, der Epikureer, werden lachen. Immerzu – nehmen sie es, jeder einzelne, auf, wie es Ihnen passt. Ich lasse die Predigt und das Stirnrunzeln, das Hohnlächeln und das Lachen gelten. Vielleicht haben sie alle recht, und vielleicht hätten Sie geirrt wie ich, wenn Sie in meinen Umständen gewesen wären. Wahrhaftig, der erste Monat war für mich ein langer, schwarzer, schwerer Monat“.
Vilette, Charlotte Bronté (1816-1855)

Wir denken selten darüber nach, aber in ferner Zukunft kommt ein Zeitpunkt, von dem an alles im Dunkel ist.

Foto: © National Portrait Gallery: NPG 2929

„Es gibt eine Größe, bei der die Würde beginnt, danach kommt eine Größe bei der die Erhabenheit beginnt; dann kommt eine Größe bei der die Feierlichkeit beginnt, dann eine Größe bei der das Beängstigende beginnt; und danach eine Größe, bei der das Grauen beginnt… Und um das Gespenstische des Himmels in seiner gewaltigen Ausdehnung noch zu verstärken- dieser Himmel verfällt. Denn bei allem Staunen über diese immerwährenden Sterne, die ewigen Himmelskörper und wie es sonst noch heißt- sie sind nicht immerwährend, sie sind nicht ewig; sie verbrennen wie Kerzen… Stellen Sie sich vor, all diese Sterne wären
erloschen, und Ihr Geist würde sich durch einen völlig finsteren Himmel hindurchtasten und ab und zu die unsichtbaren, ausgeglühten schwarzen Reste dieser Sterne streifen….“
Thomas Hardy (1840-1928)

Eigentlich ist es schade, dass man zum großen Teil vergisst, wie die Welt der Erwachsenen dem Kind aus seiner Perspektive erscheint.

Foto: © Neithan 90

„Dort saß ich nun wieder viele Stunden des Tages und las wie ein Kind, das mit den Beinen nicht bis zur Erde reicht. Denn siehst du, dass unser Kopf haltlos ist oder in nichts ragt, daran sind wir gewöhnt, denn wir haben unter den Füßen etwas Festes; aber Kindheit, das heißt, an beiden Enden nicht ganz gesichert sein und statt der Greifzangen von später noch die weichen Flanellhände haben und vor einem Buch sitzen, als ob man auf einem kleinen Blatt über Abstürzen durch den Raum segelte.“
Die Amsel, Robert Musil (1880-1942)

 

 

 

Literatur hält, neben der Erzählung und der Schönheit des Wortes in der sie zu Papier gebracht wird, auch noch Nebengewinne für uns bereit. Einer davon ist, dass man zeitweise eine Anschauungsweise der Welt gewinnt, die einem bis dahin verschlossen blieb

.„Es ist eine wunderbare, des Nachdenkens werte Tatsache, dass jedes Menschenwesen dazu angetan ist, für jedes andere ein tiefes Geheimnis und Rätsel zu sein. Es ist ein feierlicher Gedanke, wenn ich bei Nacht in eine große Stadt komme, dass jedes dieser düster zusammengedrängten Häuser sein Geheimnis in sich schließt, dass jeder Raum in jedem von ihnen sein Geheimnis enthält; dass jedes schlagende Herz in den Hunderttausenden von Menschenbusen in einigen seiner Träume ein Geheimnis für das ihm nächste Herz ist! Etwas von dem erhabenen Grauen, das der Tod einflößt, ist dem zuzuschreiben. Ich kann die Blätter dieses teuren Buches nicht mehr umwenden, das ich liebte, und hoffe vergeblich, es mit der Zeit auszulesen. Ich kann nicht mehr in die Tiefen dieses unergründlichen Wassers schauen, in dem ich, als flüchtige Strahlen darauf fielen, einen Blick auf begrabene Schätze und andere versunkene Herrlichkeiten erhaschte. Es war beschlossen, dass sich das Buch mit einem Schlag auf immer und ewig verschließen sollte, als ich nur eine einzige Seite gelesen hatte. Es war beschlossen, dass das Wasser in ewigem Frost erstarren sollte, als das Licht noch auf seiner Oberfläche spielte und ich ahnungslos am Ufer stand. Mein Freund ist tot, mein Nachbar ist tot, meine Geliebte, das Kleinod meiner Seele, ist tot, es ist die unerbittliche Besiegelung und Verewigung des Geheimnisses, das stets in dieser Persönlichkeit war, und das ich bis an mein Lebensende in mir tragen werde. Gibt es auf einem der Friedhöfe der Stadt, durch die ich gehe, einen Schlummernden, der unerforschlicher ist, als mir ihre geschäftigen Bewohner in ihrer innersten Persönlichkeit sind oder als ich ihnen bin? Von diesem, seinem natürlichen, unentwindbaren Erbe besaß der berittene Bote genauso viel wie der König, der erste Staatsminister oder der reichste Kaufmann in London.“
Eine Geschichte zweier Städte, Charles Dickens (1812-1870)

Foto: © Public Domain

Liebe Leute, alle diejenigen, welche befürchten Kultur Jack könnte Opfer einer Depression geworden sein, kann ich beruhigen – dem ist nicht so. Ich bin nur der Meinung, dass in einem Kulturblog der Schmerz und die Nachdenklichkeit der Poeten genauso seinen Platz hat,
Euer Kultur Jack!

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !