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B(r)uchstücke der Literatur LXVI – 1900-1950

B(r)uchstücke der Literatur LXVI – 1900-1950

Das 20. Jahrhundert brachte große Umschwünge in die Art und Weise der Schreibenden – die Moderne hielt Einzug.

Bewusstseinsströme

Virginia Woolf, Foto: © Fillipo Venturi Photography Blog

„Und dennoch, der letzte Anblick der beiden – wie er vom großen Randstein hinuntertritt – sie ihm um die Ecke des großen Gebäudes folgt – füllt mich randvoll mit Staunen – überflutet mich von neuem. Geheimnisvolle Gestalten! Mutter und Sohn. Wer seid ihr? Warum geht ihr die Straße entlang? Wo werdet ihr heute nacht schlafen? Und dann, morgen? Oh, wie es wirbelt und wogt – mich von neuem flott macht. Ich gehe ihnen nach. Leute fahren hierhin und dorthin. Das weiße Licht plätschert und ergießt sich. Spiegelscheiben, Nelken; Chrysanthemen. Efeu in dunklen Gärten. Milchkarren vor den Türen. Wohin ich auch gehe, geheimnisvolle Gestalten, sehe ich euch, wie ihr um die Ecke biegt, Mütter und Söhne; ihr, ihr, ihr. Ich eile, ich folge. Dies, denke ich mir, muss das Meer sein. Grau ist die Landschaft; fahl wie Asche; die Wasser rauschen und rollen. Wenn ich auf die Knie falle, wenn ich das Ritual vollziehe, die alten Possen, seid ihr es, unbekannte Gestalten, ihr, die ich anbete. Wenn ich die Arme öffne, bist du es, die ich umarme, du, die ich an mich ziehe, – anbetungswürdige Welt!“
Die Dame im Spiegel, Ein ungeschriebener Roman, Virginia Woolf (1882-1941), (deutsch: Herbert und Marlys Herlitschka)

Empfindungen beim Tanz.

John Dos Passos, Foto: © wikimedia commons

„Wie ein Heftpflaster war sein Arm, als er ihn um ihren Rücken legte, um mit ihr zu tanzen. In seiner Brust knisterten hohe aschgraue Mauern und stürzten zusammen. Wie eine Feuerkugel schwebte er auf dem Duft ihrer Haare.
„Stellen sie sich auf die Zehenspitzen und gehen sie im Takt der Musik – immer gerade aus, das ist der ganze Trick.“ Ihre Stimme verletzte ihn tief, kalt, wie eine feine, biegsame, scharfe Metallsäge. Puffende Ellbogen, starre Gesichter, Glotzaugen, dicke Männer und magere Weiber, magere Weiber und dicke Männer kreisten in dichtem Gewühl. Er war zerbröckelnder Mörtel, mit einem wehen Rasseln in der Brust, sie eine komplizierte Maschine mit stählernen Sägezähnen, weißschimmernd, blauschimmernd, kupferschimmernd in seinen Armen. Als sie haltmachten, fühlte er die Berührung ihrer Brust und ihrer Lende und ihres Schenkels. Plötzlich war er voller Blut, schweißdampfend wie ein durchgegangenes Pferd. Ein Luftzug durch eine offene Tür wirbelte den Tabaksrauch und die dickgeronnene rosige Luft des Lokals durcheinander.“
Manhattan Transfer, John Dos Passos (1896-1970) (deutsch: Paul Baudisch)

Alle Blickwinkel einer Schifffahrt.

Iwan Bunin, Foto: © new.runivers.ru

„Das Abendessen zog sich über eine Stunde hin. Endlich begann im Ballsaal der Tanz. Während die Herrn – selbstverständlich auch der Herr aus San Francisco – eifrig das Tanzbein schwangen, Havannazigarren rauchten, sich in der Bar mit Likören stärkten und von rotbefrackten Negern, deren Augenbälle wie geschälte, hartgekochte Eier aussahen, bedient wurden, entschieden sie das Wohl und Wehe ganzer Völker. Draußen aber türmte der Ozean schwarze Wasserberge um das Schiff auf, toste der Schneesturm und fuhr fauchend durch die steifgefrorene Takelage, der Schiffsrumpf bebte in allen Fugen, setzte sich gegen den Sturm und die schwarzen Wassermassen zur Wehr, sich immer wieder wie ein Pflug durch die gischtgekrönten Wellenberge eine Bahn brechend. Das im Nebel erstickende Geheul der Sirene stöhnte wie voll tödlicher Angst, und die von angespannter Aufmerksamkeit erschöpften Ausguckposten kamen im Sturm vor Kälte fast um. Tief unten im Bauch des Schiffes dröhnte dumpf eine finstere, glutheiße Hölle: die riesigen Feuerungen mit ihren rotglühenden Rachen, in die halbnackte, schweißtriefende schwarze Gestalten Berge von Steinkohlen schaufelten. Oben aber in der Bar, eingehüllt in Wolken duftenden Tabakrauchs, die Beine übermütig über den Lehnen, rekelte man sich in den Sesseln und schlürfte Kognak und Likör. Im Lichtschimmer des Ballsaals, wo alles Fröhlichkeit und Wärme ausstrahlte und die Musik unaufhörlich mit ihren sinnenbetörenden, frivolen Melodien immer nur um dasselbe, das eine, warb, drehten sich die Paare im Walzertakt oder wiegten sich im Rhythmus eines Tangos…“
Europäische Erzähler des 20. Jahrhunderts, Band 1, Ein Herr aus San Francisco, Iwan Bunin (1870-1953) (deutsch: Walter Richter-Ruhland)

Das Sexuelle erobert die Literatur.

D. H. Lawrence, Foto: © Edward Nehls

„Sie erschauerte wieder unter dem zwingenden, unerbittlichen Eindringen in ihren Leib, das so seltsam war und so schrecklich. Es mochte mit dem Stoß eines Schwertes in ihren weich geöffneten Schoß kommen, und das würde der Tod sein. In jäh aufsteigender Angst klammerte sie sich an ihn. Doch er drang mit einem seltsam ruhigen Stoß des Friedens in sie, mit dem dunklen Stoß des Friedens und einer schweren, uranfänglichen Zärtlichkeit, die zum Anbeginn die Welt erschaffen hatte. Und die Angst in ihrer Brust wich zurück; sie wagte es, sich diesem Frieden zu überlassen – sie hielt nichts zurück. Sie wagte es, alles hinzugeben, ihr ganzes Selbst und sich von der Flut davontragen zu lassen.
Und ihr war, als sei sie wie das Meer, nichts als dunkles, steigendes und fallendes Gewoge, von einem mächtigen Strom getragen, und langsam geriet ihre ganze Dunkelheit in Bewegung, und sie war das Weltmeer, das in seiner dunklen, stummen Schwere dahinrollte. Und auf dem Grund ihres Inneren teilten sich die Tiefen und wogten auseinander vor dem Mittelpunkt sanften Eindringens aus, als der Taucher tiefer eindrang, immer tiefer, sie immer tiefer berührte, und tiefer, tiefer, tiefer wurde sie bloßgelegt und machtvoller rollten die Wogen ihres Seins dahin, einem fremden Ufer zu, und deckten sie auf, und näher und näher tauchte das fühlbare Unbekannte, und immer weiter rollten die Wogen ihres Seins fort von ihr, ließen sie zurück, bis jäh, in sanftem, schauerndem Erbeben der Kern all ihres Plasmas getroffen wurde – sie sich getroffen wusste – und die Vollendung über sie kam und sie verging. Sie verging, sie war nicht mehr, sie wurde geboren: ein Weib.“
Lady Chatterley, D.H. Lawrence (1885-1930), (deutsch: Werner Rebhuhn)

Selbstbetrachtung.

Edward M. Forster, Foto: © GaHetNa

Das Leben verläuft größtenteils so eintönig, dass gar nicht viel darüber auszusagen ist, und die Bücher und Gespräche, die es interessant erscheinen lassen möchten, sehen sich zu Übertreibungen genötigt – offenbar in der Hoffnung, ihre eigene Existenz zu rechtfertigen. In einem Seidenkokon von Arbeit und geselliger Verpflichtung schlummert der menschliche Geist die meiste Zeit dahin, ohne mehr zu tun, als den Unterschied zwischen Lust und Schmerz zu registrieren, aber längst nicht mit dem Grad von Wachheit, den wir gewöhnlich dabei vortäuschen. Selbst am aufregendsten Tag gibt es längere Zeitabschnitte, in denen gar nichts passiert, und obwohl wir unaufhörlich ausrufen: „Ich bin entzückt“ oder „Ich bin entsetzt“, lassen wir es dabei an Aufrichtigkeit fehlen. „Soweit ich überhaupt etwas empfinde, ist es Entzücken oder Entsetzen“ – darauf liefe im Grunde alles hinaus, und ein vollkommen seiner Umwelt angepasster Organismus würde sich stumm verhalten.“
Auf der Suche nach Indien, Edward M. Forster (1879-1970), (deutsch: Wolfgang von Einsiedel)

Die Literatur des 20. Jahrhunderts verlangte konzentriertes Lesen, bisher Verschwiegenes wurde der Beschreibung für würdig empfunden und das Erlebte wurde eingehender analysiert. Der Leser wurde auf wundervolle neue Reisen des Geistes und der Empfindungen mitgenommen. Schöne neue Welt!
Euer Kultur Jack!

Beitragsbild: Pixabay

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !