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B(r)uchstücke der Literatur LXXI – Anschauungen

B(r)uchstücke der Literatur LXXI – Anschauungen

In sehr vielen Romanen lassen uns die handelnden Figuren an Erkenntnissen teilhaben, die auf ihren Lebenserfahrungen basieren. Ich denke jedoch, dass vieles davon in der Autobiographie des Schriftstellers wurzelt. Für den Leser können derartige Wahrnehmungen von Bedeutung sein, weil sie das Potential haben, die eigene Sichtweise verändern zu können. So kann es schon zeitweise geschehen, dass man unterbrechend das Buch sinken lässt, und der Gedanke erwacht: „Eigentlich ist diese Auffassung richtig!“

Über das Ungewöhnliche.

Alexander Lernet-Holenia, Foto: © Bildarchiv der US-Informationsdienste in Österreich

„Immer lachen die Leute über die, die das Ungewöhnliche bemerken. Es ist ihre Art sich gegen Beunruhigendes sich zur Wehr zu setzen. Denn alles Ungewöhnliche ist beunruhigend, alle Größe erschüttert, alle Schönheit verwirrt. Die Leute aber wünschen nicht beunruhigt zu werden. Sie tun, als sähen sie das Ungemeine einfach nicht. Maltravers warf einen flüchtigen Blick auf die Frau, die dennoch applaudiert hatte, und sagte sich, dass es eines ganzen Lebens, verbracht mit den enttäuschendsten Männern, bedurft haben müsse, sie zu diesem Applaus zu bringen. Junge Frauen haben es noch nicht nötig, ungewöhnlich zu sein. Erst wenn sie altern, werden einige von ihnen zu ungewöhnlichen Frauen, und dann lacht man über sie.
Denn altern bedeutet: zu spät den Blick für das Beunruhigende zu bekommen, das Leben heißt. Den Blick für das Gefährliche. Alles Ungewöhnliche ist gefährlich. Ungefährlich ist nur das Gemeine. Wirklich leben aber heißt: sich gefährden.
Er, Maltravers, hatte sich gefährdet sein Leben lang. Gehasst hatte er nur die Gefahr, der keiner entgeht, den Tod. Denn er trat jeden an, er war völlig gewöhnlich, es war keine Kunst, ihn zu sterben. Aber der Graf fing an einzusehen, dass er sich geirrt haben müsse. Denn man kann auch auf die Art dahingehen, auf die man gelebt, persönlich, vielleicht sogar auf grandiose Weise, nicht bloß so allgemeinhin wie die anderen. Und seitdem wartete er, etwa mit der Ungeduld eines Menschen, der eine Scharte auszuwetzen hat, auf sein zweites Sterben.“
Die Auferstehung Maltravers, Alexander Lernet-Holenia (1897-1976)

Das Rätsel Leben, dass niemand lösen kann.

Blaise Pascal, Foto: © Palace of Versailles

„Ich schaue diese grauenvollen Räume des Universums, die mich einschließen, und ich finde mich an eine Ecke dieses weiten Weltenraumes gefesselt, ohne dass ich wüsste, weshalb ich nun hier und nicht etwa dort bin, noch weshalb ich die wenige Zeit, die mir zum Leben gegeben ist, jetzt erhielt und an keinem anderen Zeitpunkt der Ewigkeit, die vor mir war oder die nach mir sein wird. Ringsum sehe ich nichts als Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom, wie einen Schatten umschließen, der nur einen Augenblick dauert, ohne Wiederkehr.“
Blaise Pascal
Die Säulen des Himmels, Vincent Cronin (1924-2011), (deutsch: Margitta Hervás und Rudolf Schultz)

Die Macht der Gewohnheit.

Michel de Montaigne, Foto: © archivio.formatione.unimib

„In der Tat ist die Gewohnheit eine herrschsüchtige, dabei schleicherische Schulmeisterin. Ganz verstohlen, auf leisen Sohlen dehnt sie Stück für Stück ihren Machtbereich in uns aus. Aber hat sie nach diesen sanften und bescheidenen Anfängen mit Hilfe der Zeit erst einmal in uns Fuß gefasst und sich sesshaft gemacht, lässt sie alsbald die Maske fallen und zeigt uns ihr grimmiges und tyrannisches Gesicht, gegen das auch nur den Blick zu heben wir nicht mehr die Freiheit haben. So sehn wir sie nun auf Schritt und Tritt die Regeln der Natur vergewaltigen: Die Gewohnheit ist die mächtigste Herrin über alle Dinge.“
Die Essais, Über die Gewohnheit und dass man ein überkommenes Gesetz nicht leichtfertig ändern sollte, Michel de Montaigne (1533-1592), (deutsch: Hans Stilett)

Was ist von Wichtigkeit in meinem Leben.

Otto Stoessl, Foto: © Österreichische National Bibliothek

„Ich habe nach Gold getrachtet, ich habe Silber statt Gold bekommen, ich habe vor Wut gezittert, ich habe den König geschmäht wie der kleine Junge den größeren. Das also war mein Leben. Deshalb habe ich den Kampf der Lichten mit den Finsteren gesehen und die Kräfte der Zeiten über die Seelen der Menschen hinbrausen lassen gleich einem Gott, der ich war, um mein Herz an einen Berg von Münzen zu hängen, gleich einem Affen, der stiehlt und das Gestohlene aus dem Baum wegschmeißt, da er es nicht essen kann. Das war mein Kampf mit meiner Finsternis. Hier hat mich Iblis geküsst, und Schlangen wuchsen aus meinen Schultern. Sie haben mich gejagt und haben mich ruhelos gemacht und haben mir keine Heimat vergönnt, keinen Sohn, keine Tochter, keine Stätte, keine Gnade, nicht mich selbst. Ich habe mein Haus bauen wollen und ist doch gut genug für diese paar Knochen, ich habe meine Erde erneuern wollen und ist doch breit genug für mein Grab, ich habe die Wirklichkeit wollen und ist doch mein Traum mehr. Ich habe glücklich sein wollen, und hatte doch mehr Glück, als das Glück mir bieten konnte. Ich bin in meinem Paradies verschmachtet. Ich habe mein Gedicht erlitten, und ein Knabe kann mit meinem Wort eines Knaben spotten. Darum lebt Firdusi. Warum und wofür leben die anderen? Jeden küsst Iblis auf die Schulter, ins Herz, auf die Lippen, und Schlangen wachsen in den Menschen. Fiebertäler werden aus Paradiesen und Bettler kehren heim. Sie sind dort, von wo sie ausgingen und haben gelebt. Jeglicher wird nur, was er ist, findet nur, was er hat, sehnt sich nach dem Seinigen und stirbt an seinem Leben.“
Die schönsten Erzählungen aus Österreich, Der Tod des Firdusi, Otto Stoessl (1875-1936)

Warum verläuft mein Schicksal auf diese Weise?

Thomas Hardy, Foto: © National Portrait Gallery, London

„Warum es geschehen musste, dass auf dieses schöne Gewebe eines Frauenschicksals, empfindlicher als zarte Gaze und bis zu diesem Augenblick unleugbar weiß wie Schnee, solch ein rohes Muster vorgezeichnet wurde, wie es das Verhängnis ihm zugeteilt hatte – warum so oft das Rohe sich solchermaßen des Zarten bemächtigt, das haben viele Jahrtausende analytischer Philosophie unserem Gerechtigkeitsgefühl nicht zu erklären vermocht. Man könnte freilich die Möglichkeit zugeben, dass in jeder Katastrophe eine Vergeltung steckt. Zweifellos haben ein paar von Tess D´Urbervilles gepanzerten Vorfahren, wenn sie ausgelassen von einer Schlägerei nach Hause tollten, den Bauernmädchen ihrer Tage dasselbe schmähliche Unrecht, und sogar noch unbarmherziger, zugefügt. Doch der Grundsatz, die Sünden der Väter an den Kindern heimzusuchen, mag zwar eine hinlänglich passende Moral für Gottheiten sein, aber die durchschnittliche Menschennatur verachtet ihn; und so macht er die Sache nicht besser.“
Tess von d´Urbervilles, Thomas Hardy (1840-1928), (deutsch: Paul Baudisch)

Die Auffassung von verschwendeter Zeit ist unterschiedlich.
Schach spielt Dürrenmatt nicht mehr. „Mich ärgert diese ungeheure Verschwendung des Denkens an eine Fiktion.“
Hausbesuche, Birgit Lahann (geb.1940)

Friedrich Dürrenmatt, Foto: © Elke Wetzig

 

Der Genuss an Literatur liegt prinzipiell in der Freude am Lesen und dem Eintauchen in fremde Welten. Wenn sie uns jedoch hilft unsere eigenen Anschauungen zu verfeinern, dann muss man ihr schon Wichtigkeit beimessen.
Euer Kultur Jack!

Beitragsbild: Der Denker, Auguste Rodin, Foto: © Pixabay

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !