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B(r)uchstücke der Literatur XLV – Ansichten

B(r)uchstücke der Literatur XLV – Ansichten

 Die Wirklichkeit und Traumbilder sind meistens sehr unterschiedlich. Glücklich jener, der beides in sein Leben integrieren kann.

„Wenn es die Verwirklichung von Urträumen ist, fliegen zu können und mit den Fischen zu reisen. Sich unter den Leibern von Bergriesen durchzubohren, mit göttlichen Geschwindigkeiten Botschaften zu senden, das Unsichtbare und Ferne zu sehen und sprechen zu hören, Tote sprechen zu hören, sich in wundertätigen Genesungsschlaf versenken zu lassen, mit lebende Augen erblicken zu können, wie man zwanzig Jahre nach seinem Tod aussehen wird, in flimmernden Nächten tausend Dinge über und unter dieser Welt zu wissen, die früher niemand gewusst hat, wenn Licht, Wärme, Kraft, Genuss, Bequemlichkeit Urträume der Menschheit sind – dann ist die heutige Forschung nicht nur Wissenschaft, sondern ein Zauber, eine Zeremonie von höchster Herzens und Hirnkraft, vor der Gott eine Falte seines Mantels nach der anderen öffnet, eine Religion, deren Dogmatik von der harten, mutigen, beweglichen, messerkühlen und- scharfen Denklehre der Mathematik durchdrungen und getragen wird.Allerdings es ist nicht zu leugnen, dass alle diese Urträume nach Meinung der Nichtmathematiker mit einem Mal in einer ganz anderen Weise verwirklicht waren, als man sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Münchhausens Posthorn war schöner als die fabriksmäßige Stimmkonserve, der Siebenmeilenstiefel schöner als der Kraftwagen, Laurins Reich schöner als ein Eisenbahntunnel, die Zauberwurzel schöner als ein Bildtelegramm, vom Herz seiner Mutter zu essen und die Vögel zu verstehen, schöner als eine tierpsychologische Studie über die Ausdrucksbewegungen der Vogelstimme. Man hat Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren.“

                                  Der Mann ohne Eigenschaften, Robert Musil (1880-1942)

Foto: © Musil, Jounaux

Auch wenn Millers Ansätze oft radikal sind, Interesse und Nachdenklichkeit rufen sie bei mir immer hervor.

Foto: © Wim van Rossem, proxy. handle.net

„Ehrlich gesagt, wenn wir mit dieser Idee von der Rettung der Welt spielen müssen, dann behaupte ich, dass ich mit einem eigenhändigen Aquarell, das mir gefällt – nicht notwendigerweise auch Ihnen-, einen besseren Beitrag dazu leiste als irgendein Minister, mit oder ohne Portefeuille. Ich glaube, dass sogar seine Heiligkeit der Papst, sowenig ich an ihn glaube, sein Teil dazu beiträgt. Aber dann muss ich, wenn ich ihn erwähne, auch Leute wie Al Capone oder Elvis Presley anführen. Warum nicht? Können Sie das Gegenteil beweisen?

Wie gesagt, nach meinem Job als Personalchef bei Western Union und nachdem ich schon Totengräber und Straßenkehrer, Bibliothekar, Buchhändler, Versicherungsagent, Billetkontrolleur, Farmarbeiter gewesen war und noch hundert andere gleichermaßen wichtige Dinge (spirituell gesprochen) getan hatte, landete ich in Paris, war bald völlig fertig – wäre Zuhälter oder Strichjunge geworden, wenn ich die Veranlagung dazu gehabt hätte – und wurde schließlich Schriftsteller.“

                                  Mein Leben als Echo, Henry Miller (1891-1980)

Um Nestroys „Freiheit in Krähwinkel“ richtig zu verstehen, muss man wissen, dass es im Revolutionsjahr 1848 geschrieben wurde, also am Höhepunkt von Metternichs Polizeistaat und dem Spitzelwesen in Österreich.

Johann Nestroy als Pan 1861, Foto: © theatermuseum.at

„Recht und Freiheit sind ein paar bedeutungsvolle Worte, aber nur in der einfachen Zahl unendlich groß, drum hat man sie uns auch immer nur in der wertlosen vielfachen Zahl gegeben. Das klingt wie ein mathematischer Unsinn und ist doch die evidenteste Wahrheit. Es ist grad wie manche Frau, die sehr viele Tugenden hat. Sie hat einen freundlichen Humor und brummt nicht, wenn der Mann ausgeht- das ist eine Tugend; sie hat ein gutes Herz, das ist eine Tugend; sie bringt die fünfte Schale Kaffee schon schwer hinunter, das ist auch eine Tugend; und trotz so vieler ihr innewohnenden Tugenden ist doch Tugend bei ihr nicht zu Haus! Grad so is`s uns mit Freiheit und Recht ergangen. Was für eine Menge Rechte haben wir g`habt, die Rechte der Geburt, die Rechte und Vorrechte des Standes, dann das höchste unter den Rechten, das Bergrecht, dann das niedrigste unter allen Rechten, dass man selbst bei erwiesener Zahlungsunfähigkeit und Armut einen einsperren lassen kann. Wir haben ferner das Recht g`habt, nach erlangter Bewilligung Diplome von gelehrten Gesellschaften anzunehmen. Sogar mit hoher Genehmigung das Recht, ausländische Courtoisie-Orden zu tragen. Und trotz all diesen unschätzbaren Rechten haben wir doch kein Recht g`habt, weil wir Sklaven waren. Was haben wir ferner alles für Freiheiten g`habt! Überall auf`n Land und in den Städten zu gewissen Zeiten Marktfreiheit. Auch in der Residenz war Freiheit, in die Redoutensäle nämlich die Maskenfreiheit. Noch mehr Freiheit in die Kaffeehäuser; wenn sich ein Nichtsverzehrender ang`lehnt und die Pyramidler geniert hat, hat der Markör laut und öffentlich g`schrien: Billardfreiheit! Wir haben sogar Gedankenfreiheit g`habt, insofern wir die Gedanken bei uns behalten haben. Es war nämlich für die Gedanken eine Art Hundsverordnung. Man hat`s haben dürfen, aber am Schnürl führen! Wie man`s loslassen hat, haben`s einem erschlagen. Mit einem Wort, wir haben eine Menge Freiheiten gehabt, aber von Freiheit keine Spur.“

                                                        Freiheit in Krähwinkel, Johann Nestroy (1801-1862)

Wir lernen durch positive, wie auch negative Erlebnisse.

Foto: © elenguapropia.files, wordpress.com

„Lasst uns dankbar sein gegen alle die uns Glück geben, denn es sind Zaubergärtner, und unter ihrer Hand blühen unsere Seelen auf. Dankbarer noch lasst uns sein gegen bösartige oder auch nur gleichgültige Frauen, gegen grausame Freunde, die uns Kummer bereitet haben. Sie haben unser Herz verwüstet, das noch jetzt mit formlosen Trümmern bedeckt ist, sie haben die Stämme entwurzelt und die feinsten Triebe zerstört wie ein wütender Wirbelwind, aber er hat doch einige gute Samenkörner ausgestreut für eine künftig ungewisse Ernte.

Sie haben all unser kleines Glück zertreten, worunter unser großer Jammer verborgen lag, sie haben aus unserem Herzen eine nackten, melancholischen Gefängnishof gemacht, aber sie haben uns endlich die Möglichkeit gegeben, es ruhig zu betrachten und unser Urteil zu fällen.“

                             Trauer und Träume in allen Regenbogenfarben, Marcel Proust (1871-1922)

Die Lebensumstände in der Zeit des Biedermeier waren ganz anders als unsere heutigen.  Trotzdem hat das Folgende für viele unserer Zeitgenossen nicht an Aktualität verloren – und ich glaube, es sind nicht wenige.

Foto: © saaz.info/index.php

„Wer mit seinem Weibe Jahre lang gelebt hat, gewöhnt sich an sie und ihre Gesellschaft, wie an ein Stück seines eigenen Lebens, er findet sie als Bestandteil in allen seinen Vorstellungen, ihre Tätigkeit greift in sein Leben ein; Das heißt er Liebe, das ist es, was er nicht entbehren kann, darum kann er sich von seinem Weibe nicht trennen, es ist ein Sinnliches, ein Selbstsüchtiges – und das ist keiner stark genug zu opfern, darum begreifen sie an anderen auch nicht. Sie müssten ein neues Leben beginnen, einen neuen Kreis von Vorstellungen anfangen, und das ist sehr schwer, weil sich die ganze verzweigte Verwandtschaft der vorhandenen Vorstellungen dagegen sträubt. Daraus erklärt sich auch die Tatsache, warum ein Mann, der den Tode seiner Gattin aufrichtig mit tiefstem Schmerz betrauert, der meint, er könne nun gar nicht mehr leben, doch sehr bald darauf wieder eine neue Verbindung schließt, weil er seine eigene bisherige Gewohnheitsweise nicht aufgeben kann, und eine neue Ehe das leichteste Mittel ist, das Alte wenigstens annähernd wieder herzustellen; denn er braucht nur die Person zu verwechseln, und dann bleibt alles beim alten. Darum hört man in solchen Fällen das so oft, was ich von einem sehr alten Manne, der fünfunddreißig Jahre in einer sehr glücklichen Ehe gelebt hatte, und nach dem Tode seiner Gattin, alsobald wieder eine neue Ehe einging, bei meiner Gräfin sagen gehört habe: er kann seine Häuslichkeit nicht entbehren.“

                                                                   Der Waldgänger, Adalbert Stifter (1805-1868)

Ansichten und Meinungen haben über Jahrhunderte ihre Wertigkeit, denn man kann sie annehmen und verwenden, oder auch nicht. Sind sie noch dazu in Weltliteratur eingebettet, hat man den Genuss, sie mit der Schönheit des Wortes vermittelt zu bekommen. So verdoppeln sich die Chancen auf wertvolle Erfahrung!

Euer, Kultur Jack!

Beitragsbild: Pixabay

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !