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B(r)uchstücke der Literatur LVI – Die Kunst der Beredsamkeit

B(r)uchstücke der Literatur LVI – Die Kunst der Beredsamkeit

Ein beredsamer Mensch zeichnet sich durch die Beherrschung der Regeln der Grammatik und einen überdurchschnittlichen Wortschatz aus. Die endliche Anzahl an Wörtern kann jedoch, durch Stilmittel und Verknüpfungselemente, eine schier endlose Menge an Sätzen erzeugen. Der durchschnittliche erwachsene Mensch hat einen aktiven Wortschatz von 12.000 – 16.000 Wörtern, jedoch zählt die deutsche Sprache, nach heutigem Stand, etwa 5,3 Millionen Wörter.
Zur Zeit der Renaissance war die Anzahl der Wörter ein Bruchteil der heutigen Menge, jedoch genügten sie, um Giovanni Boccaccio unsterblich zu machen.

„Da es aber Ihm , dem Unvergänglichen, der allen weltlichen Dingen das unabänderliche Gesetz der Vergänglichkeit auferlegte, gefiel, so hat auch meine Liebe, die heißer als jede andere glühte und die weder durch eigene gute Vorsätze noch durch fremde Ratschläge, weder durch offensichtliche Schande noch durch die daraus möglicherweise entstehenden Gefahren zu brechen oder zu beugen war, im Laufe der Zeit an Macht verloren, so dass in meinem Gemüte allein jener holde Eindruck haftenblieb, den sie in Menschen zu hinterlassen pflegt, die sich nicht zu weit auf ihr dunkles Meer hinausgewagt haben.“
Das Decamerone, Giovanni Boccaccio (1313-1375)

Foto: © xn4

Der Wert der Dichtkunst.

Foto: © Library of Congress

„Die Dichtkunst, werter Junker, ist meiner Meinung nach wie eine zarte, jugendliche, vollendet schöne Jungfrau, um welche andre Jungfrauen bestrebt sind, sie zu bereichern, zu schmücken, mit höherem Glanz zu umgeben; diese letzteren, sind die anderen Wissenschaften alle, und jene will ihrer aller Dienste benutzen, und alle wollen durch sie höheren Wert erlangen. Aber diese Jungfrau will nicht plump betastet und auf den Gassen umhergeschleppt, will nicht an den Ecken der Marktplätze noch in den Plauderwinkeln der Paläste zur öffentlichen Kunde gebracht werden. Sie ist aus einem Erz von so edlem Gehalt gebildet, dass, wer es zu behandeln versteht, es in reinstes Gold von unschätzbarem Wert zu verwandeln vermag. Wer sie besitzt, muss sie in den rechten Schranken halten und nicht gestatten, dass sie sich in unsittlichen Satiren oder gewissenlosen Sonetten ergehe. Sie darf um nichts feil sein, ausgenommen, wenn es sich um Heldengedichte, trauervolle Tragödien und heitere, kunstreiche Komödien handelt; man soll die Kunst der Poesie nicht von den Possenreißern üben lassen noch von dem Pöbel, der unfähig ist, die Schätze zu erkennen und zu würdigen, die sie in sich birgt. Und denkt nicht etwa, Senor, dass ich hier nur die Leute von plebejischem und niedrigem Stande Pöbel nenne; nein, jeder Ungebildete, wenn er auch ein vornehmer Herr und ein Fürst ist, kann und muss zum Pöbel gerechnet werden.“
Don Quijote, Miguel Cervantes (1547-1616)

Die Poesie der Sprache.

Foto: © Project Gutenberg Ebook

„Es war ein lieblicher Frühlingsabend, und in der sanften Stille des Zwielichts lag wunderbare Ruhe über der ganzen Natur. Der Tag war schön und warm gewesen, aber mit dem Eintritt der Nacht wurde die Luft kühl und in der Ferne stieg leichter Rauch aus den Schornsteinen der Häuser. Tausend angenehme Düfte von jungem Laub und frischen Knospen erfüllten die Luft; der Kuckuck, der den ganzen Tag über gerufen hatte, war jetzt verstummt, und der Geruch von neu aufgeworfener Erde, die erste Verheißung für den fleißigen Arbeiter, nachdem sein Garten lange öde gelegen hat, schwang mit dem Abendwind. Es war eine Zeit, in der die meisten Menschen gute Vorsätze fassen und eine vergeudete Vergangenheit bereuen, in der die meisten, wenn sie die dichter werdenden Schatten betrachten, des Abends gedenken, der alles beschließt, und des Morgens, dem keiner mehr folgt.“
Martin Chuzzlewit, Charles Dickens (1812-1870)

Die Bedeutung eines Wortes.

Foto: © viadellebelledonne

„Der Mann, auf den so leidenschaftliche Gefühle und Einbildungen unterwegs waren, saß indessen in Gesellschaft seines Sohnes Peter bei der Mittagsmahlzeit, die von ihm, einer guten Regel älterer Zeiten folgend, noch zur wirklichen Mittagsstunde eingenommen wurde. In seiner Umgebung gab es keinen Luxus, oder wie man in deutscher Sprache besser sagt, keinen Überfluss; denn das deutsche Wort eröffnet uns den Sinn, den das fremdländische verschließt. So hat auch Luxus die Bedeutung des Überflüssigen und Entbehrlichen, das müßiger Reichtum ansammeln mag; Überfluss dagegen ist nicht sowohl überflüssig, und insofern gleichbedeutend mit Luxus, als vielmehr auch überfließend und bedeutet dann eine leicht über den Rahmen schwellende Polsterung des Daseins oder jene überschüssige Bequemlichkeit und Weitherzigkeit des europäischen Lebens, die nur den ganz Armen fehlt.“
Der Mann ohne Eigenschaften, Robert Musil (1880-1942)

Der Meister der Schachtelsätze.

Foto: © ine.es/asturama

„An den Tagen, an denen Madame Swann überhaupt nicht ausgegangen war, traf man sie in einem weißen Crepe–de-Chine- Morgenrock an, manchmal auch in einem jener langen gefältelten Gewänder aus Seidenmusselin, die aussehen wie aus weißen und rosigen Blütenblättern hingehaucht und die man heute wenig für den Winter geeignet fände, ganz zu Unrecht übrigens. Denn jene leichten Stoffe und zarten Farben gaben der Frau – in der großen Hitze der damaligen Salons mit ihren geschlossenen Portieren, Salons, deren „weiche Üppigkeit“ die Modeschriftsteller der Epoche rühmten, wenn sie besonders elegant sein wollten – dasselbe fröstelnde Aussehen, wie es die Rosen hatten, die trotz des Winters im Inkarnat ihrer zitternden Blöße dort bei ihr ausharren konnten, als wenn es Frühling wäre. Weil die Teppiche jeden Laut erstickten und sie selbst in Polster versunken dasaß, merkte die Herrin des Hauses nicht, wenn jemand eingetreten war, wie sie es heute täte, sondern fuhr zu lesen fort, wenn man schon beinahe vor ihr stand, was den Eindruck des Romanhaften, den Zauber gleichsam eines erlauschten Geheimnisses verstärkte, den wir noch in der Erinnerung an jene damals schon aus der Mode gekommenen Gewänder wiederfinden, die Madame Swann vielleicht als einzige noch nicht abgelegt hatte, und die in uns die Vorstellung wecken, die Frau, die sie trug, müsse eine Romanheldin gewesen sein, da die meisten von uns solchen Gebilden nie außer in gewissen Werken erzählender Prosa von Henry Gréville begegnet sind.“
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Im Schatten junger Mädchenblüte, Marcel Proust (1871-1922)

Die Grande Dame des Wortes.
„Die herbstlichen Bäume, zerzaust vom Wind, glänzen nun wie zerfetzte Fahnen, die im Dämmerlicht kühler Gewölbe unter den Kathedralen schimmern, wo Goldbuchstaben auf Marmortafeln vom Schlachtentod erzählen und von Gebeinen, die fern im indischen Sand bleichen und dörren. Die herbstlichen Bäume leuchten im gelblichen Mondlicht, im Licht herbstlicher Monde, das die harte Mühsal mildert, die starrenden Stoppelfelder lindernd überglänzt und die Woge in leuchtendem Blau zum Gestade trägt.“
Die Fahrt zum Leuchtturm, Virginia Woolf (1882-1941)

Foto: © wordpress.com

 

Die Eloquenz mancher Schriftsteller kann den Leser vor die Frage stellen: „War für mich die Geschichte, oder die Sprache des Buches wichtiger?
Euer Kultur Jack!

Beitragsbild: Pixabay

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !