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B(r)uchstücke der Literatur XLIX – Der Morgen

B(r)uchstücke der Literatur XLIX – Der Morgen

Solche Sätze im Winter zu lesen, macht Freude auf Kommendes und die frühe Stunde.

Foto: © Heritage Auction Gallery

„Alles war frisch und heiter an diesem Morgen, als wäre die Welt gerade erst geschaffen worden, und Mr. Chester ritt gemächlich auf der Waldstraße dahin. Trotz der frühen Jahreszeit war das Wetter warm und angenehm; an den Bäumen sprangen die Knospen auf, Wiesen und Hecken trugen frisches Grün, die Luft war erfüllt von den Liedern der Vögel, und hoch über ihnen allen ergoss die Lerche ihre herrlichsten Melodien. Im Schatten funkelte der Morgentau auf den jungen Blättern und Gräsern, und in der Sonne blitzten noch einige diamantene Tropfen, als wollten sie diese schöne Welt und ihr kurzes Leben nicht so schnell aufgeben. Selbst der leichte Wind, der zart wie ein sanfter Wasserfall vorüberrauschte, trug Hoffnung und Verheißung, und als er verwehte, blieb ein feiner Duft zurück, der davon erzählte, dass der Frühling den Sommer auf seinem Weg getroffen hatte.“
Barnaby Rudge, Charles Dickens (1812-1870)

Die „Grande Dame“ des modernen englischen Romans bietet uns ihre Version des Morgens.

Foto: © artprints.leeds.gov.uk

„Die Sonne ging auf. Sehr langsam kam sie über den Himmelsrand und verstreute Licht. Aber der Himmel war so weiträumig, so wolkenleer, dass ihn mit Licht zu füllen Zeit brauchte. Ganz allmählich verwandelten sich die wenigen Wolken in Blau, Blätter an Waldbäumen blinkten; unten leuchtete eine Blume; Augen von Tieren – Tiger, Affen, Vögeln – funkelten. Langsam hob sich die Welt aus Dunkel. Das Meer wurde wie die Haut eines zahllos beschuppten Fisches, glitzerndes Gold. Dort, im Süden von Frankreich, wurde das Licht von den gefurchten Weingärten aufgefangen; die kleinen Trauben wurden purpurn und gelb; die Sonne kam zwischen den Latten der Jalousien herein und strichelte die weißen Wände.“
Die Jahre, Virginia Woolf (1882-1941)

Die Morgendämmerung in der freien Natur.

Foto: © art.uk

„Obwohl es noch taudunkel war, als wir uns auf den Weg machten, stahl sich in die erstarrte Luft eine unsichtbare, weiße Heerschar von blassbeschwingten Lichtstrahlen, die hinter den Bergen zur Welt gekommen war und bereits, gleich einem Zug von Tauben, grauweiß hoch oben auf den schneeigen in den Himmel wachsenden Zinnen des Monte Cristallo Zuflucht zu nehmen schien, und als wir über die Matten des Tales dahinschritten, hatten wir das herrlich erhebende Gefühl, das man empfindet, wenn man vor Sonnenaufgang aufbricht: jede kostbare Minute des Tages vor uns – wir hatten noch keine verloren!“
Höhenwild, John Galsworthy (1867-1933)

 

Licht und Glanz des Tagesbeginns.

„Es war sehr früh am nächsten Morgen – taufrisch und sonnig. Wirr stiegen die Anfangstakte der vielen Vogellieder in die reine Luft, und das blasse Himmelsblau war da und dort mit spinnwebzarten Wolken unterlegt, die jedoch das Tageslicht keineswegs dämpften. Alle Farben waren gelb getönt, die Schatten dünn und lang. Die Schlingpflanzen an dem alten Gutshof waren mit Säumen von Tautropfen besetzt, und jeder Tropfen wirkte auf das, was dahinter lag, wie ein winziges, aber starkes Vergrößerungsglas.
Am grünen Rand der Welt, Thomas Hardy (1840-1928)

Foto: © National Portrait Gallery, London

Poeten verstehen es, den Morgen als schönste Tageszeit zu präsentieren.
„Ich befand mich auf der Hauptstraße. Ich ging auf ihrer schattenblauen Seite und spähte zur gegenüberliegenden: dass sie in Schönheit getaucht erschien, war das Werk eines jener zarten, frühen Sommermorgen mit aufblitzendem Glasgefunkel hier und da und einer Stimmung, als zittere alles und sei fast einer Ohnmacht nahe angesichts des nahenden, unerträglich heißen Mittags.“
Lolita, Vladimir Nabokov (1899-1977)

Foto: © gettyimages.co.uk

Natürlich hatten auch die Romantiker Freude an der Morgenstimmung.
„An dem schönen Morgen, in der herrlichen goldenen Frühlingszeit, wenn selbst durch die finsteren Straßen in der Stadt der laue West zieht und in seinem dumpfen Murmeln und Rauschen von all den Wundern zu erzählen scheint, die draußen in Wald und Flur erblühen, da schleiche ich träge und unmutig in Herrn Elias Roos´ räuchrichtes Kontor.“
Die Serapionsbrüder, E.T.A. Hoffmann (1776-1822)

Foto: © Alte Nationalgalerie

Eine imaginäre Schönheit in adäquaten Worten auszudrücken, bedarf schon literarischer Meisterschaft.
Euer, Kultur Jack!

Beitragsbild: Der Morgen, Caspar David Friedrich, Copyright: Hyperfinch

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !