Seite auswählen

B(r)uchstücke der Literatur LXIV – Das 20. Jahrhundert

B(r)uchstücke der Literatur LXIV – Das 20. Jahrhundert

Das 20 Jahrhundert bescherte durch die beiden großen Kriege, die Riesensprünge in den Wissenschaften, die sexuelle Revolution und den beginnenden Wohlstand für Alle, eine Flut an neuen Themen der modernen Literatur.

Sommertag am Lande.

Stefan Zweig, Foto: © Picryl

An einem so blau brennenden, so feurig brütenden Julinachmittag hat die Post von Klein-Reifling wenig Arbeit zu befürchten, der Morgendienst ist erledigt, die Briefe hat der bucklige, tabakkauende Briefträger Hinterfellner längst ausgeteilt, vor abends kommen keine Pakete und Warenproben von der Fabrik zu spedieren, und zum Schreiben haben die Landleute jetzt weder Lust noch Zeit. Die Bauern harken, mit meterbreiten Strohhüten bewehrt, weit draußen in den Weingärten, die Kinder tummeln sich schulfrei mit nackten Beinen im Bach, leer liegt das buckelige Steinpflaster vor der Tür, in der brodelnden, messingenen Glut des Mittags. Gut ist es jetzt, zu Hause zu sein und gut träumen zu dürfen. Im künstlichen Schatten der herabgelassenen Jalousien schlafen die Papiere und Formulare in ihren Laden Und Regalen, faul und matt blinzelt das Metall der Apparate durch die goldene Dämmerung. Stille liegt wie ein dicker goldener Staub über den Gegenständen, nur zwischen den verschlossenen Fenstern machen die dünnen Violinen der Mücken und das braune Cello einer Hummel eine liliputanische Sommermusik. Das Einzige, was sich im gekühlten Raum unaufhörlich regt, ist die holzgefasste Wanduhr zwischen den Fenstern. Jede Sekunde schluckt sie mit einem ganz kleinen Gluck einen Tropfen Zeit, aber dieses dünne, monotone Geräusch schläfert eher ein, statt zu erwecken. So sitzt die Postassistentin in einer Art wachen, wohligen Lähmung inmitten ihrer kleinen schlafenden Welt. Eigentlich hatte sie eine Handarbeit machen wollen, man sieht es an der vorbereiteten Nadel und Schere, aber die Stickerei ist zerknüllt auf die Erde gefallen, ohne dass sie Wille oder Kraft hätte, sie wieder aufzuheben. Weich und fast atemlos lehnt sie im Sessel und lässt sich, geschlossenen Auges, überrieseln von dem wunderbar seltenen Gefühl berechtigten Müßigganges.
Rausch der Verwandlung, Stefan Zweig (1881-1942)

Amerikanische Innenarchitektur.

John Steinbeck, Foto: © digital.library.ucla.edu

Die Markisen waren noch über die großen Straßenfenster heruntergelassen, so dass im Laden ein grünliches Licht herrschte. Auch hier Gestelle bis zur Decke, säuberlich vollgefüllt mit Lebensmittel in glänzenden Blechdosen und Gläsern, sozusagen eine Bibliothek für den Bauch. Auf der einen Seite Theke, Registrierkasse, Säcke, Bindfäden sowie das großartige Möbel aus verchromtem Stahl und weißem Email, die Kühltheke, in der der Kompressor vor sich hinflüsterte. Ethan drehte einen Schalter und ließ Licht strömen über den kalten Aufschnitt, über Käse und Wurst, über Rump – und Beefsteak und Fische – alles war von dem bläulichen Neonschein überzogen. Etwas wie Beleuchtung einer Kathedrale erfüllte den Ladenraum, ein diffuses Licht, nicht unähnlich dem das in der Kathedrale von Chartres liegt. Ethan blieb einen Augenblick lang stehen, um es zu bewundern, alles, die Orgelpfeifen der Tomatendosen, die Seitenkapellen von Senf und Oliven, die hundert Sardinensarkophage.
Geld bringt Geld, John Steinbeck (1902-1968), (deutsch: Harry Kahn)

Zergliederung des Sprechens.

Ihr Sprechen erinnerte mich an eine Art gedämpftes, gezähmtes, keusches und dennoch schwüles Gurren, an ein Murmeln unterirdischer Quellen, an das ferne Rollen ferner Züge, die man manchmal in schlaflosen Nächten vernimmt, und jedes ihrer banalsten Worte bekam für mich dank dieser Tiefe des Klangs, in der es ausgesprochen ward, die bedeutungsvolle gesättigte Kraft einer weiten, und zwar nicht genau verständlichen, wohl aber deutlich erahnbaren verschollenen, vielleicht einmal in Träumen vage erlauschten Ursprache.
Die Kapuzinergruft, Joseph Roth (1894-1939)

Joseph Roth, Foto: © cambridgeforcast.wordpress.com

Der Dichter und die Sonne.

Marcel Proust, Foto: © parisdepeches.fr

An den Stellen, wo die Bäume noch ihren Laubschmuck trugen, schienen sie eine stoffliche Veränderung von der Linie an zu erfahren, wo die Sonne sie traf, horizontal am Morgen und dann noch einmal einige Stunden später, wenn sie im Augenblick der beginnenden Dämmerung sich wie eine Lampe entzündete und von fernher auf das Blätterwerk einen künstlichen, sengenden Lichtschein fallen ließ und die höchsten Spitzen eines Baumes, der selbst der unverbrennliche, farblose Kandelaber seines lodernden Wipfels blieb, in Flammen zu setzen schien. Hier brannte sie die Kastanienblätter ziegelhart und klebte sie wie ein gelbes persisches Mauerwerk mit blauen Ornamenten derb auf den Himmel auf, an einer anderen Stelle löste sie sie mit den gekrümmten goldenen Fingern im Gegenteil von ihm ab. Auf einem von wildem Wein umkleideten Baum pfropfte sie, ohne dass man ihn in seiner leuchtenden Pracht deutlich erkennen konnte, in halber Höhe etwas wie einen ungeheuren Strauß aus roten Blüten, vielleicht einer Nelkenart, aus.
Auf der Suche der verlorenen Zeit, In Swanns Welt, Marcel Proust (1871-1922), (deutsch: Eva Rechel-Mertens)

Entscheidungen für immer zu treffen.

D.H. Lawrence, Foto: © Edward Nehls

„Aber du stimmst mir zu, nicht wahr, dass das flüchtige Geschlechtliche nichts ist, verglichen mit dem langen, gemeinsam gelebten Leben? Meinst du nicht, dass man das Geschlechtliche den Notwendigkeiten eines langen Lebens einfach unterordnen kann? Es einfach tun, da wir nun mal dazu getrieben werden? Überhaupt, sind diese vorübergehenden Erregungen denn so wichtig? Liegt nicht das ganze Problem des Lebens darin, allmählich, im Laufe der Jahre, eine runde Persönlichkeit aufzubauen? Ein rundes Leben zu führen? In einem anderen Leben ist kein Sinn. Wenn ein Mangel an Sexuellem dich zersetzen sollte, dann geh hin und hab eine Liebesaffäre. Wenn das Fehlen eines Kindes dich zersetzt, dann hab ein Kind, wenn es irgend geht. Aber tu dies alles nur so, dass du ein rundes Leben führst – ein Leben, das ein langwährendes, harmonisches Ganzes bildet. Und du und ich, wir könnten das gemeinsam so haben, glaubst du nicht?…Wenn wir uns in die Notwendigkeiten fügen und gleichzeitig dies Sicheinfügen mit unserem stetig gelebten Leben verweben. Meinst du nicht auch?“
Connie war ziemlich überwältigt von seinen Worten. Sie wusste, dass er theoretisch recht hatte. Doch wenn sie wirklich an ihr stetig gelebtes Leben mit ihm dachte, dann zögerte sie…War es ihr denn tatsächlich bestimmt, sich immer weiter in sein Leben zu verweben, ihr eigenes ganzes Leben lang? Nichts sonst?
War es nur das? Sie hatte sich damit zu begnügen, ein stetiges Leben mit ihm zu weben, ein einheitliches Gebilde, das vielleicht hin und wieder, mit der brokatenen Blume eines Abenteuers durchwirkt war. Doch wie sollte sie wissen, was sie im nächsten Jahr empfinden würde? Wie konnte sie das jemals wissen? Wie konnte man Ja sagen? Für Jahre und Jahre im Voraus? Dies kleine Ja, in einem Hauch verweht! Warum war man durch dies Schmetterlingswort fest verkettet? Natürlich wäre es doch, wenn es verflattern würde, vergehen, und von anderen Jas und Neins abgelöst würde! Wie Schmetterlingsgaukeln.“
Lady Chatterley, D.H: Lawrence (1885-1930), (deutsch: Werner Rebhuhn)

Das Leben bringt Veränderung.
Nun haben Mann und Frau sich von neuem verlobt. In einer unbewussten Stunde haben sie das schönste Spielzeug hergestellt: Puppen, die gehen, sprechen und schlafen können und die an ihrer Vollkommenheit zugrunde gehen. Als das erste Kind gekommen war und er nach der Geburt sein eigenes Zimmer betrat, waren seine Bücher und Papiere ihm fremd geworden. Sie lagen totenstill im Lichte eines Nachmittags, der aus der Zeit herausgeschnitten worden war wie eine Scheibe Brot für einen inzwischen reich gewordenen Bettler.
Ein unordentlicher Mensch, Adriaan Morrien (1912-2002), (deutsch: Georg Goyert)

Adriaan Morrien, Foto: © proxi.handle.net

Dieses Jahrhundert der Literatur schenkte dem Leser eine schier endlose Auswahl an Werken und Schreibenden, aber auch die resignierende Erkenntnis den größten Teil davon niemals lesen zu können.
Euer, Kultur Jack!

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !