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B(r)uchstücke der Literatur LXV – Nacht über Europa

B(r)uchstücke der Literatur LXV – Nacht über Europa

Die entsetzlichste Zeit Europas waren die Jahre 1933-1945. Natürlich waren auch der 1. Weltkrieg oder der 30-jährige Krieg schreckliche Zeitspannen, jedoch in der Nazidiktatur erreichte sinnlose und willkürliche Vernichtung von Leben ihren geschichtlichen Höhepunkt. Noch dazu steht uns diese Ära wesentlich näher als die Kaiserzeit. Ein Novum an Verachtung des Nächsten war auch die Eliminierung jüdischen kulturellen Gedankenguts durch Bücherverbrennungen. Einen kleinen Bruchteil dieser entwürdigten Menschen zeigt dieser Beitrag – gewidmet ist er allen.
Stefan Zweig gehörte zu den meistgelesenen, deutschsprachigen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf Grund „der langen Jahre heimatlosen Wanderns“ und der Zerstörung seiner „geistigen Heimat Europa“ schied er freiwillig mit seiner Frau 1942 in Petropolis, Brasilien aus dem Leben.

Eine Nacht in den Alpen.

Stefan Zweig, Foto: © wikimedia commons

„Jetzt kommt der Atem zurück, klar, regelmäßig gut, sie tritt hinaus auf den Balkon und erschauert auf beglückte Art, mit ihrer eigenen heißen Überfülltheit einer so ungeheuren Leere der Landschaft plötzlich gegenüberzustehen und ein kleines irdisches Herz so allein, wild in dies riesige Gewölbe der Nacht pochen zu lassen. Auch hier ist Stille, aber eine mächtigere, elementarischere als die des von Menschenhänden gekellerten Raums, Stille, die nicht bedrückt, sondern auflöst und entspannt. Stumm liegen die vordem leuchtenden Berge jetzt in ihrem eigenen Schatten, gekauerte schwarze Riesenkatzen mit phosphoreszierenden Schneeaugen und vollkommen atemlos die Luft im opalenen Lichte des fast schon gerundeten Mondes. Wie eine zerbeulte gelbe Perle schwimmt er oben zwischen der diamantenen Streu der Sterne, dünn und ungewiss entschleiert nur sein fahles, kühles Licht die nebelumwogten Konturen des Tales. Nie hat sie etwas derart Mächtiges, sanft die Seele niederzwingendes gefühlt als diese nicht menschhaft, sondern göttlich schweigende Landschaft, aber alle Erregtheit strömt sacht von ihr ab in diese grundlose Ruhe, und sie horcht, horcht und horcht sich leidenschaftlich hinein in diese Stille, um völlig gefühlshaft in ihr aufzugehen. Da plötzlich – wie aus einem Weltall heraus, rollt ein bronzener Block mächtig hinein in die erfrorene Luft: die Kirchenglocke unten im Tal hat angeschlagen, und aufgeschreckt werfen rechts und links die Felswände den erzenen Ball zurück.“
Rausch der Verwandlung, Stefan Zweig (1881-1942)

Thomas Mann wurde trotz seiner Prominenz 1936 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Er und seine Familie verbrachten die Kriegsjahre in den USA, kehrten erst 1952 nach Europa zurück und lebten danach in der Schweiz.

Stillleben

Thomas Mann, Foto: © Picryl

„Der schneeweiße gewirkte Damast auf dem runden Tische war von einem grüngestickten Tischläufer durchzogen und bedeckt mit goldgerändertem und so durchsichtigem Porzellan, dass es hie und da wie Perlmutter schimmerte. Eine Teemaschine summte. In einem dünnsilbernen, flachen Brotkorb, der die Gestalt eines großen, gezackten, leicht gerollten Blattes hatte, lagen Rundstücke und Schnitten von Milchgebäck. Unter einer Kristallglocke türmten sich kleine, geriefelte Butterkugeln, unter einer anderen waren verschiedene Arten von Käse, gelber, grünmarmorierter und weißer sichtbar. Es fehlt nicht an einer Flasche Rotwein, welche vor dem Hausherrn stand, denn Herr Grünlich frühstückte warm.“
Buddenbrooks, Thomas Mann (1875-1955)

Franz Werfel hielt sich zum Zeitpunkt des Anschlusses Österreichs an Deutschland 1938 in Frankreich auf und kehrte nicht mehr zurück. Als 1940 Frankreich von den Deutschen besetzt wurde, flüchtete er, mit seiner Frau Alma Mahler, Heinrich, Nelly und Golo Mann zu Fuß über die Pyrenäen, und von Portugal per Schiff in die Vereinigten Staaten. Er starb 1945 in Beverly Hills.

Das Bild des Lebens.

Franz Werfel, Foto: © Picryl

„Das, was mich hier im Nebel an Gesichtern und Gestalten umgab, an nahen und fernen, an Zartheiten, Liebheiten, Warmheiten, Neigungen, Abneigungen, das hatte ich mir zu einem einheitlichen Bilde erarbeitet. Obwohl dieses Bild aus Zehntausenden von Strichen und Farbflecken zusammengesetzt war, von denen die meisten ganz zufällig und ganz unwichtig erschienen, bildete es doch ein Ganzes, das keine Auslassung ertrug. Es war mir wie allen anderen Seelen gelungen, das Ewig-Flüchtige in ein Flüchtig-Ewiges zu verwandeln, was die große Kunst des Menschen allein ist. Die Gegenwart hat keine Dimension, und deshalb wird das Leben erst dann zum Leben, wenn es nicht mehr ist. Mit einer Gewissheit, mit der mich niemals ein religiöser Glaube durchdrungen hatte, wusste ich jetzt, dass all das gestaltenreiche Leben hier, das rings um mich her Abschied nehmen wollte, meine unveräußerliche Mitgift war, mehr als das, mein eigenstes Weltwerk, das ich Gott darzubringen hatte, der wahre Opferrauch, von dem er sich nährte. V e r g e s s e n, das war der Inbegriff aller Sünde, die der Mensch begehen konnte.“
Der Stern der Ungeborenen, Franz Werfel (1890-1945)

Friedrich Torberg emigrierte ab 1938 in verschiedene europäische Länder und verließ diesen Kontinent schlussendlich ebenfalls Richtung USA, wo er in Kalifornien freundschaftliche Beziehungen zu Franz Werfel unterhielt. Nach dem Krieg kehrte er als amerikanischer Staatsbürger nach Wien zurück, wo er bis zu seinem Lebensende blieb.

Der Mensch und seine Leidenschaften.

Friedrich Torberg, Foto: © Österreichische Nationalbibliothek

„Lobet und preiset die Selbstüberschätzung! Lobet und preiset, die da befangen sind im Bezirk ihres eigenen Wirkens so sehr, dass sie gar nicht darüber hinauszusehen vermögen, dass es sie gar nicht interessiert, was außerhalb etwa vorgeht! Lobet und preiset sie, wo immer ihr sie findet! Und wahrlich: ihr findet sie häufig. Ihr findet sie in den unterschiedlichsten Gebieten irdischer Betätigung, ihr werdet diesen beglückenden vollkommenen Defekt ebenso gut an einem Schachspieler feststellen können, welcher auf die Möglichkeit einer Variante der erstmals von Aljechin im Sankt Petersburger Turnier 1914 verwendeten Eröffnung gestoßen ist, wie an einem Kurzstreckenläufer, welchem sein Trainer, für den bevorstehenden Meisterschaftskampf, eine neue, den sicheren Gewinn zweier Zehntelsekunden verheißende Startechnik beigebracht hat; ebenso gut an einem Assyrologen, welchem zwecks Deutung und Entzifferung bislang noch unbekannter Hieroglyphen die dritte Zeile einer kürzlich entdeckten Grabinschrift übergeben wurde, wie an einem Philatelisten, welchem die schräg gestellte Ziffer auf der hellblauen Zwei-Kreuzer-Venetien-Emission untrüglich als Fehldruck erkennbar geworden ist. Lobet darum und preiset sie alle, denen so herrlich gering und nicht vorhanden gilt das sämtliche übrige Geschehen! Lobet und preiset und beneidet sie! Denn ihrer ist das Himmelreich auf Erden.“
Auch das war Wien, Friedrich Torberg (1908-1979)

Joseph Roths Bücher wurden 1933 verbrannt, er suchte verschiedene Exile in europäischen Ländern und starb 1939 alkoholkrank in einem Armenspital in Paris.

Mütter

„Es ist eines der Geheimnisse der Mütter: sie verzichten niemals, ihre Kinder wiederzusehn, ihre totgeglaubten nicht und auch nicht ihre wirklich toten; und wenn es möglich wäre, dass ein totes Kind wiederauferstünde vor seiner Mutter, würde sie es in ihre Arme nehmen, so selbstverständlich, als wäre es nicht aus dem Jenseits, sondern aus einer der fernen Gegenden des Diesseits heimgekehrt. Eine Mutter erwartet die Wiederkehr ihres Kindes immer: ganz gleichgültig, ob es in ein fernes Land gewandert ist, in ein nahes oder in den Tod.“

Die Kapuzinergruft, Joseph Roth (1894-1939)

Joseph Roth, Foto: © wikimedia commons

Heinrich Heine war durch seine frühe Geburt vom Nationalsozialismus nicht unmittelbar betroffen, jedoch schrieb er 1821 die prophetischen Worte: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“. Seine Werke entgingen auch nicht dem Feuer.

Poesie.

Heinrich Heine, Foto: © wikimedia commons

„Und aus meinem Herzen ergossen sich die Gefühle der Liebe, ergossen sich sehnsüchtig in die weite Nacht. Die Blumen im Garten unter meinem Fenster dufteten stärker. Düfte sind die Gefühle der Blumen, und wie das Menschenherz in der Nacht, wo es sich einsam und unbelauscht glaubt, stärker fühlt, so scheinen auch die Blumen, sinnig verschämt, erst die umhüllende Dunkelheit zu erwarten, um sich gänzlich ihren Gefühlen hinzugeben und sie auszuhauchen in süßen Düften. – Ergießt euch, ihr Düfte meines Herzens, und sucht hinter jenen Bergen die Geliebte meiner Träume! Sie liegt jetzt schon und schläft; zu ihren Füßen knieen Engel und wenn sie im Schlafe lächelt, so ist es ein Gebet, das die Engel nachbeten; in ihrer Brust liegt der Himmel mit allen seinen Seligkeiten, und wenn sie atmet, so bebt mein Herz in der Ferne; hinter den seidenen Wimpern ihrer Augen ist die Sonne untergegangen, und wenn sie die Augen wieder aufschlägt, so ist es Tag und die Vögel singen, und die Herdenglocken läuten, und die Berge schimmern in ihren smaragdenen Kleidern, und ich schnüre den Ranzen und wandere.“
Die Harzreise, Heinrich Heine (1797-1856)
Im Vergleich zu den Millionen anderen Verfolgten, konnten viele Kunstschaffende wenigstens ihre Leben retten, jedoch ist der kulturelle Aderlass in Deutschland und Österreich unschätzbar.
Euer Kultur Jack!

Beitragsbild: Bücherverbrennung, Opernplatz Berlin 1933, German Federal Archives

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !