B(r)uchstücke der Literatur XXVII – Denn ein Traum ist alles Leben!
Der schwedische Schriftsteller Ivar Lo-Johansson, Sohn eines Landarbeiters, verließ mit 11 Jahren die Schule und arbeitete als Bauarbeiter und Postbote. Autodidaktisch erlernte er mehrere Sprachen, begann für verschiedenen Zeitungen zu schreiben und hatte im Alter von 31 Jahren seinen literarischen Durchbruch. 63-jährig verlieh ihm die Universität Uppsala die Ehrendoktorwürde. Das zeigt, dass die Ausgangssituation nicht zwingend den Lebenslauf bestimmt, sondern das eigene Wollen und Engagement das Wichtigste sind.
„Die Liebe hat ein Geheimnis in sich, und zwar das, dass sie immer eine Fortsetzung fordert“, sagte sie. „Die Liebe fordert Wiederholung. Aus diesem Grunde wird der Ehebruch, die zufällige Verbindung, immer etwas Misslungenes. Es genügt nicht, seiner Lust ein einzelnes Mal nachzugeben. Stell dir ein Land vor in dem alle hungrig sind, und in dem nur einer ein Stück Brot hat. Er kann das Stück Brot weggeben, doch es reicht nicht aus. Der Hungernde will dauernd satt sein. Deshalb werden auch die Alten so übersehen und benachteiligt. Und selbst wenn sich vielleicht einmal eine Frau einem alten Mann hingeben würde, der bald sterben muss, und sie es gerade deshalb aus, sagen wir, Güte tun will, dann fehlt doch etwas. Vermutlich ist es dasselbe, wenn es sich um einen jungen Mann und eine alte Frau handelt, und ich möchte glauben, dass selbst ein Heiratsschwindler so etwas Ähnliches fühlt. Der eine Partner kann aus Wohlwollen nachgeben. Aber die Liebe kennt ja so etwas wie Wohlwollen nicht. Sie fordert alles mit Haut und Haaren. Und nicht zuletzt deshalb sind die Alten so völlig ohne Chancen.“ – „Wie klug du bist“, sagte ich zu ihr. „Es ist sicher so“.
Als ich hinterher an das dachte worüber wir gesprochen hatten, wurde mir bewusst, dass ich ja die ganze Zeit an mich selbst gedacht hatte. Ich hatte mich mir selbst als alt vorgestellt, hatte die Gedanken eines alten Mannes gedacht und mit dem Fuß den Weg vor mir untersucht. Ich hatte den Stock in den Lehm der Kindheit gestoßen und gefragt. Ich hatte mich alt und einsam gedacht und ohne jemanden der mein Leben fortsetzte, ohne jemanden, der von mir sprach, ohne jemanden, der auch nur an mich dachte. Da würde auch keine junge Frau auf meinem Weg dahergetanzt kommen. Und da würde die Himmelskuppel sich in der Ferne an der Erdoberfläche festkleben, und sie würde wie ein schräges Dach sein, und es würde so niedrig bis zur Decke sein, dass ich mich doppelt bücken musste, um dort in das Vergessen des Todes einzugehen.
Waldwege, Ivar Lo-Johansson (1901-1990)
Zwischen 1880 und 1903 publizierte Anton Tschechow 600 literarische Werke. Nicht ohne Grund ist er einer der bedeutendsten Vertreter russischer Literatur.
„Jalta war im Morgennebel kaum zu sehen, auf den Bergspitzen lagerten unbeweglich weiße Wolken. Das Laub rührte sich nicht, die Zikaden, und das eintönige, dumpfe Brausen des Meeres sprach von ewigem Schlafe, der uns alle erwartet. So brauste es hier als es weder ein Jalta noch ein Oreanda gab, so braust es jetzt, und es wird ebenso gleichgültig und dumpf brausen, wenn wir nicht mehr sind. In dieser Beständigkeit, in dieser Gleichgültigkeit unserm Leben und Sterben gegenüber liegt vielleicht das Pfand der ewigen Erlösung, des ewigen Fortschreitens des irdischen Lebens und seiner ewigen Vervollkommnung. Während er an der Seite der jungen Frau, die im Morgengrauen so schön schien, saß und von der märchenhaften Szenerie des Meeres, der Berge, der Wolken und des unendlichen Himmels beruhigt und bezaubert war, dachte er daran, wie schön doch alles in dieser Welt sei, alles, mit Ausnahme dessen was wir selbst tun und denken, wenn wir die höchsten Ziele des Seins und unsere eigene Menschenwürde vergessen.“
Die Dame mit dem Spitz, Anton Pawlowitsch Tschechow (1860-1904)
Edward M. Forster war Mitglied der legendären Londoner „Bloomsbury Group“. Drei seiner Romane- „Reise nach Indien“, “Zimmer mit Aussicht“ und „Wiedersehen in Howards End“- wurden erfolgreich von Hollywood verfilmt.
„Ein reifer Mann mochte er ja zweifellos sein, aber trotzdem würde sie ihm vielleicht helfen können, die Regenbogenbrücke zu bauen, die in uns allen den Bogen von der Prosa zur Leidenschaft schlagen sollte. Ohne diesen Brückenschlag sind wir bedeutungslose Bruchstücke, halb Mönch, halb Tier, unverbundene Bögen, die sich nie zu einem Menschen vereinigt haben. Mit dem Brückenschlag aber kommt die Liebe zur Welt und lässt sich nieder, wo der Regenbogen am höchsten schwingt, glühend vor dem Grau, nüchtern vor dem Feuer. Glücklich derjenige, der von jedem Blickpunkt aus, die Herrlichkeit dieser ausgespannten Schwingen erschaut. Die Wege seiner Seele liegen offen und er und seine Freunde wandeln unbeschwert.“
Wiedersehen in Howards End, Edward M. Forster (1879-1970)
1636 schrieb Calderon das Schauspiel „Das Leben ein Traum“! Wunderbar daraus diese Verse, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben und noch immer zum Sinnieren anregen.
«Was ist Leben? Raserei! / Was ist Leben? Hohler Schaum, / Ein Gedicht, ein Schatten kaum! Wenig kann das Glück uns geben; / Denn ein Traum ist alles Leben / Und die Träume selbst ein Traum.»
Das Leben ein Traum, Pedro Calderon de la Barca (1600-1681)
Virginia Woolf war ebenfalls Mitglied der heute bereits erwähnten „Bloombury Group“. Ihre Romane erfordern konzentriertes Lesen, aber das ist vom Werk einer der bedeutendsten Autorinnen der Avantgarde und klassischen Moderne zu erwarten. Genau genommen verlangt jedes Stück Literatur, dass die Konzentration des Lesers dem Buch gewidmet ist.
„Die Natur, welche uns so viele wunderliche Streiche gespielt und uns so ungleich aus Lehm und Diamant, aus Regenbogen und Granit zusammengesetzt und alles in ein oft ganz unpassendes Gehäuse gezwängt hat – denn der Dichter hat ein Metzgergesicht und der Metzger ein Dichterantlitz – die Natur, welche sich mit Muddel und Mysterien ergötzt, so dass wir eben jetzt (am 1. November 1927) nicht wissen, warum wir ins obere Stockwerk unseres Hauses hinaufgehen oder von dort herunterkommen, und unser alltägliches Gehaben der Fahrt eines Schiffes über ein unbekanntes Meer gleicht, wobei der Matrose im Mastkorb, sein Fernrohr auf den Horizont gerichtet, fragt: „Ist dort Land, oder ist dort keins?“ und wir, wenn wir Propheten sind, die Antwort „Ja“ geben und, wenn wir wahrhaft sind , mit „Nein“ antworten; die Natur also, welche für so vieles verantwortlich ist, vielleicht auch für die unhandliche Länge dieses Satzes, hat unsere Aufgabe noch verwickelter und unsere Verwirrung noch verworrener gemacht, nicht nur indem sie uns im Inneren mit einem wahren Flickensack von diesem und jenem ausstattet, worin ein Stück einer Polizistenhose dicht bei Königin Alexandras Hochzeitschleier liegt, – sie hat auch bewirkt, dass dieses ganze Sammelsurium mit einem einzigen Faden nur leicht zusammengeheftet ist. Erinnerung war die Näherin, und eine launische obendrein. Erinnerung fährt mit ihrer Nadel ein und aus, hinauf und hinunter, hierhin und dorthin; wir wissen nie was als nächstes kommt oder was hinterdrein folgt. So kann das gewöhnlichste Tun auf der Welt, wie, sich an einen Tisch zu setzen und das Tintenfass zu sich heranzuziehen, ein Tausend sonderlicher, zusammenhangloser Stückchen und Fetzchen in Bewegung setzen, welche, bald glänzend, bald matt, baumeln und wippen und wedeln und flattern wie die Unterwäsche einer vierzehnköpfigen Familie an einer Leine im stürmischen Wind. Statt ein einziges sauberes, glattes Stück Arbeit zu sein, dessen sich kein Mensch zu schämen brauchte, sind unsere gewöhnlichsten Handlungen umrandet mit einem Flirren und Flattern von Flügeln, einem Steigen und Sinken von Lichtern.“
Orlando, Virginia Woolf (1882-1941)
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