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B(r)uchstücke der Literatur XXV – Wunden und Augen sind Münder, die nie lügen

B(r)uchstücke der Literatur XXV – Wunden und Augen sind Münder, die nie lügen

John Steinbeck gehört zu den großen amerikanischen Erzählern und er verstand es, auch sehr humorvoll zu schreiben.

Foto: © Nathan Hughes Hamilton

„Zwei Gallonen sind sehr viel Wein, sogar für zwei Paisanos. Sinnbildlich könnte man etwa folgende Skala aufstellen: bis kurz unter dem Flaschenhals der ersten Flasche: ernste und gesammelte Unterhaltung. Zwei Zoll tiefer: lieblich – traurige Erinnerungen. Drei Zoll weiter: die Gedanken schweifen zu einstigen erfreulichen Liebschaften und einen Zoll tiefer zu vergangenen bitteren Liebeserfahrungen. Neige des ersten Flaschenkrugs: unbestimmte, grundlose Traurigkeit – Schulter des zweiten: düstere, unheilige Verstimmung; zwei Fingerbreit weiter unten: ein Lied vom Sterben oder von großer Sehnsucht. Um einen Daumen tiefer: alle Lieder, die jeder der Trinkenden kennt. Hier verschwindet die Abstufung, denn die Spuren gehen auseinander, und nichts ist mehr gewiss. Von diesem Punkt an ist alles möglich.“
Tortilla Flat, John Steinbeck (1902-1968)

Wunderbar die Empfindung des Grafen Wronskij, als er Anna Karenina zum ersten Mal begegnet.

Foto: © http:prokudin-gorsky.org

„Wronskij folgte dem Zugführer in den Waggon und blieb am Eingang stehen, um eine aussteigende Dame vorbeizulassen. Mit dem erfahrenen Auge des Weltmanns hatte Wronskij mit einem Blick auf das Äußere dieser Dame gesehen, dass sie zu den höchsten Gesellschaftskreisen gehörte. Er entschuldigte sich und wollte in den Waggon gehen, aber er musste sich unbedingt noch einmal nach ihr umsehen, nicht, weil sie sehr schön war, auch nicht wegen der Eleganz und schlichten Anmut ihrer ganzen Gestalt, sondern weil in dem Ausdruck ihres lieblichen Gesichtes etwas besonders Angenehmes und Freundliches gewesen war, als sie an ihm vorüberging. Als er sich umschaute, wandte sie sich auch gerade um. Die leuchtenden, grauen Augen, die wegen der dichten Wimpern dunkel wirkten, richteten sich freundlich und aufmerksam auf sein Gesicht, als ob sie ihn erkenne, wandten sich dann aber sofort der vorüberströmenden Menge zu, wie wenn sie dort jemanden suchten. In diesem kurzen Blick hatte Wronskij die verhaltene Lebhaftigkeit bemerkt, die auf ihrem Gesicht spielt und zwischen den blitzenden Augen und den roten, leise lächelnden Lippen hin und her huschte. Es war, als sei ihr ganzes Wesen übervoll von Lebenslust, die sich unwillkürlich bald in dem Leuchten ihrer Augen, bald in ihrem Lächeln ausdrückte. Und wenn sie diesen Glanz in ihren Augen absichtlich dämpfte, dann leuchtete er gegen ihren Willen in dem kaum merklichen Lächeln auf.“
Anna Karenina, Leo Tolstoi (1828-1910)

Ein wenig Romantik sollte in unserem Kuturblog auch heute nicht fehlen.

Foto: © Wikipedi.a org

„Der Mond schüttete seinen fremden Tag in die Fenster des dritten Stockwerks. „O wär´ ich ein Stern“, so sang es in ihm , und er hörte nur zu, „ich wollte ihr leuchten;- wär´ ich eine Rose, ich wollte ihr blühen;- wär´ ich ein Ton, ich dräng´ in ihr Herz;- wär´ ich die Liebe, die glücklichste, ich bliebe darin;- ja, wär´ ich nur der Traum, ich wollt´ in ihren Schlummer ziehen und der Stern und die Rose und die Liebe und alles sein und gern verschwinden, wenn sie erwachte.“
Träume aus Träumen, Jean Paul (1763-1825)

 

 

Interessante und zutreffende Ansicht über einen Arbeiter, seine Heimat und seinen Boden.

Foto: © Fuzheado

„Sein Blut, Urin, Kot und Samen, Tränen, Haarsträhnen, Erbrochenes, Hautschuppen, Milch- und Kinderzähne, Finger- und Zehennägelschnipsel, alle Ausdünstungen seines Körpers steckten in diesem Boden, waren Teil dieses Ortes. Mit seiner Hände Arbeit hatte er die Gestalt der Landschaft verändert, die Wehre im steilen Graben neben dem Fahrweg, der Graben selbst, die ebenen Wiesen waren Echos seiner selbst in der Landschaft, denn die visionäre Kraft des Landarbeiters bleibt bestehen, nachdem die Arbeit getan ist. Die Luft war geladen mit seinem Atem. Das Wild, das er geschossen hatte, der Fuchs in der Falle, sie waren gestorben, weil er es beabsichtigt hatte und dazu beauftragt war, und ihre Abwesenheit in der Landschaft war eine Veränderung, die er herbeigeführt hatte.“
Postkarten, Annie Proulx (geb.1935)

Ob man Befürworter oder Gegner der Todesstrafe ist, bleibt jedermanns eigene Entscheidung. Mich, als Gegner dieses Gewaltaktes, bestätigt die Meinung Alfred Polgars.

Foto: © Berger

„Was die Todesstrafe anlangt, wäre eine Straferfahrung im Passivum, kaum möglich. Und damit bereits, müsste die Frage, ob es eine solche Strafe geben solle, in ihrer eigenen Widersinnigkeit ersticken. Liegt schon eine gewisse Unmoralität darin, dass Richtermenschen anderen Menschen ein Schicksal zuweisen, das sie selbst nur vom Hörensagen kennen, wie absurd wird erst die Sache, ist jenes Schicksal, wie im Falle der Todesstrafe, von solcher Art, dass keiner, und hätte er die lebhafteste Phantasie, es sich vorzustellen mag? Wie das ist, wenn man im Gefängnis sitzt, mit allen etwa noch hinzukommenden außertourlichen seelischen und körperlichen Quälereien, darüber fehlt es nicht an zuverlässigen Mitteilungen. Wir können uns von dieser Strafe wie von einer jeden anderen einen Begriff machen – aber von der durch plötzliches Ableben zu verbüßenden können wir das nicht. Wie das tut, wenn man gesunden Leibes stirbt, darüber hat noch niemand Auskunft gegeben. Die schon fast drüben waren (aber immerhin noch zurückgekommen sind), die also gleichsam vom Tod gekostet haben, können noch lange nicht sagen, wie er wirklich schmeckt. Was sie zu erzählen wissen, bleibt noch immer nur: Erlebnis. Über seine Ersterbnisse hat noch keiner berichtet.“
Von Verbrechern und Richtern, Alfred Polgar (1873-1955)

Philip Roth war ein aufmerksamer Beobachter der Welt. Er nahm sich nicht immer ein Blatt vor den Mund, aber das ist auch nicht die Aufgabe des Schreibenden.

Foto: © Wolf Gang

„Dieses Stück hier von Ihnen ist Mist. Grauenhaft. Zum Haareraufen. Unreif, primitiv, einfältig. Propagandagefasel. Es verkleistert die Welt hinter Wörtern. Und es stinkt zum Himmel von Ihrer Tugendhaftigkeit. Nichts wirkt verhängnisvoller auf die Kunst als der Wunsch eines Künstlers, zu beweisen, dass er gut ist. Die furchtbare Versuchung des Idealismus! Sie müssen sich zur Herrschaft über ihren Idealismus aufschwingen, über ihre Tugend und ihre Laster, zur ästhetischen Herrschaft über alles, was auch immer sie zum Schreiben nötigen mag – ihre Empörung, ihre politische Einstellung, ihr Schmerz, ihre Liebe! Sobald sie predigen und Position beziehen, sobald sie ihren eigenen Standpunkt für überlegen halten, sind sie als Künstler wertlos, wertlos und lächerlich. Wozu schreiben sie diese Proklamationen? Weil sie um sich blicken und „schockiert“ sind? Weil sie um sich blicken und „bewegt“ sind? Die Menschen geben zu schnell auf und heucheln ihre Gefühle. Sie wollen sofort etwas empfinden, und Empfindungen wie „schockiert“ und „bewegt“ sind am leichtesten zu haben. Und es sind die dümmsten. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, Mr. Zuckerman, ist Schockiertheit immer geheuchelt. Proklamationen. Die Kunst hat keine Verwendung für Proklamationen! Und jetzt seien sie so gut und entfernen ihren liebenswerten Scheiß aus meinem Büro.“
Mein Mann der Kommunist, Philip Roth (1933-2018)

Der Titel dieses Beitrags entstammt einem Buch von Harry Mulisch – enthält viel Wahrheit!

„Ihr Blick erinnerte mich an einen Vers von Calderon:
Wunden und Augen
Sind Münder, die nie lügen.“
Die Prozedur, Harry Mulisch (1927-2010)

Foto: © Michiel Hendryckx

Liebe Leute, den Lesern einen berührenden Einblick in die Köpfe von Schriftstellern gegeben zu haben, hofft,
Euer Kultur Jack!

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !