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B(r)uchstücke der Literatur XXXV – Voll Leben und voll Tod ist diese Erde…

B(r)uchstücke der Literatur XXXV – Voll Leben und voll Tod ist diese Erde…

Donna Tarrt schreibt schon seit frühester Jugend, hat jedoch, bis heute, nur drei Bücher veröffentlicht. Der, in heutiger Zeit, außergewöhnliche Grund ist, dass sie zehn Jahre an einem Buch schreibt. Ihr letzter Roman „Der Distelfink“ wurde mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet.

Foto: © Dave Fey

„Aber Depression traf es gar nicht. Es war ein freier Fall der Trauer und Abscheu weit jenseits alles Persönlichen: ein widerwärtiger, tiefer Ekel über die ganze Menschheit und alles menschliche Streben von Anbeginn der Zeit. Die sich krümmende Widerlichkeit der biologischen Ordnung. Alter, Krankheit, Tod. Kein Entkommen, für niemanden. Selbst die Schönen waren wie weiche Früchte kurz vor dem Verderben. Und trotzdem vögelten die Leute irgendwie immer weiter, setzten Kinder in die Welt, produzierten frisches Futter fürs Grab, brachten immer neue Wesen hervor, die leiden mussten, als ob es in irgendeiner Weise erlösend, gut oder moralisch bewundernswert wäre, dass man weiter unschuldige Geschöpfe in dieses Spiel zerrte, in dem man nur verlieren konnte. Zappelnde Babys und schwerfällige, selbstzufriedene, Hormon-benebelte Mütter. Oh, ist er nicht süß? Aaahh. Kinder, die schreiend auf Spielplätzen herumrannten ohne eine Ahnung, welch zukünftige Höllen sie erwarteten: langweilige Jobs, ruinöse Hypotheken, unglückliche Ehen, Haarausfall, künstliche Hüftgelenke, einsame Tassen Kaffee in einem leeren Haus und Kolostomiebeutel im Krankenhaus. Die meisten Menschen wirkten zufrieden mit der dünnen dekorativen Glasur und dem kunstvollen Bühnenlicht, die die grundlegende Scheußlichkeit des menschlichen Seins manchmal ein bisschen mysteriöser oder weniger abstoßend erscheinen ließ. Die Leute spielten Roulette oder Golf, pflanzten Gärten, handelten mit Aktie, hatten Sex, kauften neue Autos, machten Yoga, arbeiteten, beteten, renovierten ihre Häuser, regten sich über die Nachrichten auf, verhätschelten ihre Kinder, tratschten über die Nachbarn, studierten Restaurantkritiker, gründeten wohltätige Organisationen, unterstützten politische Kandidaten, nahmen an den U.S. Open teil, speisten und reisten, lenkten sich mit allen möglichen Spielzeugen und Geräten ab und überfluteten sich unaufhörlich mit Informationen und Texten und Kommunikation und Unterhaltung aus allen Richtungen um vergessen zu machen: wo wir waren, was wir waren. Aber bei hellem Licht betrachtet, ließ es sich auf keine Weise schönreden. Es war von oben bis unten beschissen. Zeit im Büro absitzen, gehorsam zwei Komma fünf Kinder Nachwuchs gebären, bei einer Pensionierungsfeier höflich lächeln und dann an seinem Bettlaken kauen und im Pflegeheim an Pfirsichen aus der Dose ersticken. Es war besser, nie geboren worden zu sein – nie etwas gewollt, nie gehofft zu haben.“
Der Distelfink, Donna Tarrt (geb. 1963)

Der siebenbändige Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist das Hauptwerk von Marcel Proust, und er schuf damit eines der bedeutendsten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts. Aber auch in seinen kürzeren Erzählungen verstand er es meisterhaft, nebensächlichen Dingen geistige Größe und Leben einzuhauchen.

Foto: © Wikimedia Commons

„Eines Abends war die Stunde uns besonders günstig. In den wenigen Augenblicken des Sonnenuntergangs durchlief das Wasser alle Farbtöne, unsere Seelen die ganze Stufenleiter der Wonne. Plötzlich wandten wir uns um, da sahen wir einen kleinen Schmetterling daherkommen, dann zwei, dann fünf, wie sie die Blumen an unserem Gestade verließen, um über den See sich zu wiegen. Bald schienen sie eine unfassbare Wolke fortgewehter Rosen, bald landeten sie an den Blumen am anderen Ufer, sie kamen zurück um von neuem sanft ihre abenteuerliche Überfahrt zu wagen, und bisweilen zögerten sie, verlockt, über dem kostbar getönten See, der in seinen Farben einer großen sterbenden Blüte glich.
Das war zu viel, unsere Augen füllten sich mit Tränen. Diese kleinen Schmetterlinge, die über den See segelten, kamen und gingen über unsere Seelen – über unsere Seele, die angespannt war von Erregung durch so viel Schönes, bereit zu vibrieren, zu erbeben -, sie gingen dahin und kamen wie ein wollüstiger Geigenstrich. Die zarte Bewegung ihres Fluges streifte das Wasser nie, aber unsere Augen liebkosten sie, unsere Herzen; jedes Zittern ihrer rosenfarbigen Flügelchen brachte uns einer Ohnmacht nahe. Als wir sie bei ihrer Rückkunft vom anderen Flussufer wahrnahmen, als wir ihr Spiel, ihr freies Wandeln über die Wasser entdeckten, da klang eine zauberhafte Harmonie in uns wider. Indessen kamen sie zurück mit tausend Arabesken ihrer Laune, dadurch veränderten sie die einfache Harmonie und zeichneten eine Melodie von märchenhafter Phantasie. Unsere Seele war klangreich geworden, sie lauschte jenem schweigenden Fluge, sie hörte aus ihm eine wundervoll frei gezogene Musik heraus, in der all die sanften, starken Harmonien des Sees sich durchdringend einten mit denen der Wälder, des Himmels und mit unseren eigenen – und mit magischer Süße spielte unser Leben dazu die Begleitung und ließ uns in Tränen ausbrechen.“
Trauer und Träume in allen Regenbogenfarben, Marcel Proust (1871-1922)

Bis heute ist Henry Miller als Provokateur und Bürgerschreck berüchtigt, jedoch in all seinen Erzählungen und Romanen hat Philosophie einen hohen Stellenwert.

Foto: © Proxy Handle. Net

„Etwas das existiert hat, verschwindet nicht, es verwandelt sich. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Manchmal ist er mir sogar willkommen. Wenn ich im Bett liege und mich sehr gut fühle, dann denke ich zuweilen:“ Jetzt ist die Zeit zu sterben. Ich fühle mich großartig, erfüllt. Lass ihn jetzt kommen. Ich bin bereit.“ Und so lebe ich jetzt mit ihm wie mit einem wartenden Gefährten. Als der heilige Franziskus starb, sagte er:“ Bruder Tod, ich habe dich ganz vergessen. Ich muss ein Gedicht auf den Bruder Tod schreiben.“ Wie herrlich so zu sterben! Ungefähr so stehe ich zum Tod.“
Mein Leben und meine Welt, Henry Miller (1891-1980)

 

 

Robert Musil hat an seinem Hauptwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“ zweiundzwanzig Jahre lang gearbeitet, und es trotzdem nicht beenden können. Auch ohne Abschluss, zählen diese über 1600 Seiten heute zur Weltliteratur.

Foto: © Viadellebelledonne.files.wordpress.com

„Agathe hatte sich immer vor dem Tod gefürchtet, wenn sie sich ihn, wie das jeder junge und gesunde Mensch tut, in der unerträglichen und unverständlichen Form vorstellte: jetzt bist du noch, aber irgendwann bist du nicht mehr! Aber zugleich hatte sie schon in früher Jugend jenes allmähliche Loslösen kennen gelernt, das sich in die kleinste Zeitspanne einzuschieben vermag, jenes trotz aller Langsamkeit rasend schnelle Abgewendetwerden vom Leben, und seiner Müde werden, und seiner Gleichgültig werden und zutraulich in das kommende Nichts Hineinstreben, das sich einstellt, wenn der Körper durch eine Krankheit schwer verletzt wird, ohne dass sich die Sinne trüben. Sie hatte Vertrauen in den Tod. Vielleicht ist er nicht so schlimm, dachte sie. Es ist schließlich doch immer etwas Natürliches und Angenehmes aufzuhören; bei allem was man tut.“
Der Mann ohne Eigenschaften, Robert Musil (1880-1942)

Der Titel des heutigen Beitrags entstammt einem Gedicht des österreichischen Schriftstellers Jura Soyfer. Sein kurzes Leben endete nach 27 Jahren im KZ Buchenwald.

Foto: © doew.at

„Denn nahe, viel näher, als ihr es begreift,
Hab ich die Erde gesehn.
Ich sah sie von goldenen Saaten umreift,
Vom Schatten des Bombenflugzeugs gestreift
Und erfüllt von Maschinengefröhn.
Ich sah sie von Radiosendern bespickt;
Die warfen Wellen von Lüge und Haß.
Ich sah sie verlaust, verarmt – und beglückt
Mit Reichtum ohne Maß.

Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde,
Voll Leben und voll Tod ist diese Erde,
In Armut und in Reichtum grenzenlos.
Gesegnet und verdammt ist diese Erde,
Von Schönheit hell umflammt ist diese Erde,
Und ihre Zukunft ist herrlich und groß.

Denn nahe, viel näher als ihr es begreift,
Steht diese Zukunft bevor.
Ich sah, wie sie zwischen den Saaten schon reift,
Die Schatten vom Antlitz der Erde schon streift
Und greift zu den Sternen empor.
ch weiß, daß von Sender zu Sender bald fliegt
Die Nachricht vom Tag, da die Erde genas.
Dann schwelgt diese Erde, erlöst und beglückt,
In Reichtum ohne Maß.

Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde,
Voll Leben und voll Tod ist diese Erde,
In Armut und in Reichtum grenzenlos.
Gesegnet und verdammt ist diese Erde,
Von Schönheit hell umflammt ist diese Erde,
Und ihre Zukunft ist herrlich und groß!“
Das Lied von der Erde, Jura Soyfer (1912-1939)

Dass sich Schriftsteller mit dem Leben beschäftigten, ist leicht verständlich, denn sie standen mitten darin und waren überwältigt. Dem Tod in ihrem Werk Raum zu geben, war den meisten genauso wichtig, ist er doch das Einzige, dessen wir uns sicher sein können.
Euer Kultur Jack!

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !