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B(r)uchstücke XVI – Europa, Europa!

B(r)uchstücke XVI – Europa, Europa!

Europa, Europa!

Liebe Leute, weil wir Alle, in den vergangenen Wochen, mit Europa konfrontiert wurden, greifen wir, da wir im Herzen dieses Kontinents sitzen, dieses Thema gerne auf und wollen unseren Beitrag dazu liefern. Das bedeutet – heute gibt es ausschließlich europäische Literatur!
Dazu wenden wir uns sogleich unserem Nachbarn zu, der mit uns einen großen Teil der Alpen teilt. Eines der interessantesten Bücher, die ich in den letzten Jahren las, schrieb der Schweizer Peter Bieri – besser bekannt unter seinem Pseudonym Pascal Mercier. Sein „Nachtzug nach Lissabon“ weist ihn eindeutig auch als Philosophen aus.

Foto: © Robert Huffstutter

Begegnungen mit Menschen sind, so will es mir oft scheinen, wie das Kreuzen von besinnungslos dahinrasenden Zügen in tiefster Nacht. Wir werfen flüchtige, gehetzte Blicke auf die Anderen, die hinter trübem Glas in schummerigem Licht sitzen und aus unserem Blickfeld wieder verschwinden, kaum dass wir Zeit hatten, sie wahrzunehmen. Waren es wirklich ein Mann und eine Frau, die da vorbeiflitzten wie Phantasmata in einem erleuchteten Fensterrahmen, der aus dem Nichts auftauchte und ohne Sinn und Zweck hineingeschnitten schien in des menschenleere Dunkel? Kannten sich die beiden? Haben sie geredet? Gelacht? Geweint? Man wird sagen: So mag es sein, wenn fremde Spaziergänger in Regen und Wind aneinander vorbeigehen; da mag der Vergleich etwas für sich haben. Aber vielen Leuten sitzen wir doch länger gegenüber, wir essen und arbeiten zusammen, liegen nebeneinander, wohnen unter einem Dach. Wo ist da die Flüchtigkeit? Doch alles, was uns Beständigkeit, Vertrautheit und intimes Wissen vorgaukelt: Ist es nicht eine zur Beruhigung erfunden Täuschung, mit der wir die flackernde, verstörende Flüchtigkeit zu überdecken und zu bannen suchen, weil es unmöglich wäre, ihr in jedem Augenblick standzuhalten? Ist nicht jeder Anblick eines Anderen und jeder Blickwechsel doch wie gespenstig kurze Begegnung von Blicken zwischen Reisenden, die aneinander vorbeigleiten, betäubt von der unmenschlichen Geschwindigkeit und der Faust des Luftdrucks, die alles zum erzittern und Klirren bringt? Gleiten unsere Blicke nicht immerfort an den Anderen ab, wie in der rasenden Begegnung des Nachts, und lassen uns zurück mit lauter Mutmaßungen , Gedankensplittern und angedichteten Eigenschaften? Ist es nicht in Wahrheit so, dass nicht die Menschen sich begegnen, sondern die Schatten, die ihre Vorstellungen werfen?
                                                                        Nachtzug nach Lissabon (Pascal Mercier )

Auch der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch hat mich in Erstaunen versetzt. Nicht nur auf Grund seines Stils sondern er punktete beeindruckend mit seiner Allgemeinbildung und seiner Gedankenwelt.

Foto: © Michiel Hendryckx

„Offen gestanden“, sagte Max, „habe ich als kleiner Junge nie verstanden, dass sich jemand dem All gegenüber klein vorkommen kann. Der Mensch weiß doch, wie überwältigend groß es ist, und noch einige Dinge mehr, aber deswegen ist er doch nicht klein! Dass er das alles entdeckt hat, beweist doch gerade seine Größe. Das Erstaunliche ist eher, dass dieses murkelige Wesen das gesamte Weltall in diesem winzigen Raum unter seiner Schädeldecke erfassen und darüber obendrein noch reflektieren kann, wie wir jetzt. Das macht ihn in gewisser Weise sogar noch größer als das Weltall.“
                              Die Entdeckung des Himmels (Harry Mulisch 1927-2010)

 

 

Nach so viel Philosophie entspannen wir uns ein wenig bei einer wundervollen Beschreibung eines endenden Tages im Sonnenuntergang. Und das verdanken wir einem berühmten deutschen Buch, welches, bis jetzt, Süskinds einziger Roman ist.

Foto: © Mons Maenalus

Baldini erhob sich. Er öffnete die Jalousie, und sein Körper tauchte bis herab zu den Knien ins Abendlicht und glühte auf wie eine abgebrannte glosende Fackel. Er sah den tiefroten Saum der Sonne hinter dem Louvre und das zartere Feuer auf den Schieferdächern der Stadt. Unter ihm der Fluß glänzte wie Gold, die Schiffe waren verschwunden. Und es kam wohl ein Wind auf, denn über die Wasserfläche fielen die Böen wie Schuppen, und es glitzerte da und dort und immer näher, als streue eine riesige Hand Millionen von Louisdor – Stücken ins Wasser, und die Richtung des Flusses schien sich für einen Moment umgekehrt zu haben: er strömte auf Baldini zu, eine gleißende Flut von purem Gold.
                                                                Das Parfum (Patrick Süskind)

 

Der Engländer Thomas Hardy findet, für im Widerschein eines Feuers betrachtete Gesichter, Zeilen, als wären sie mit Worten gemalt.

Foto: © National Portrait Gallery: NPG 2498

Die strahlenden Lichter und schwärzlichen Schatten, die auf der Haut und den Kleidern der Umstehenden miteinander stritten, bewirkten, dass ihre Gesichtszüge und gesamten Konturen mit kraftvollen dürerschen Pinselstrichen gezeichnet wurden. Doch war es unmöglich den eigentlichen sittlichen Ausdruck eines jeden Gesichts zu erkennen, denn da die behenden Flammen senkrecht in die Höhe schossen, schwankten und wieder durch die Luft herabstürzten, veränderten sich die Schattenflecken und Lichtfunken auf den Gesichtern der Leute unaufhörlich. Alles schwankte, zitterte gleich Blättern, schwand blitzschnell dahin. Dunkle Augenhöhlen, tief wie die eines Totenkopfes, verwandelten sich plötzlich in glanzvolle Abgründe, eingefallene Wangen in Höhlen, die hell aufleuchteten, und Runzeln wurden zu Schluchten oder völlig ausgelöscht, wenn der Lichtstrahl eine andere Richtung nahm. Aus Nasenlöchern wurden dunkle Brunnen, die Sehnen an den Hälsen der alten Männer zu vergoldeten Zierleisten, Gegenstände ohne besonderen Glanz leuchteten wie glasiert; blanke Dinge, wie die Spitze einer Ginstersichel, die einer der Männer bei sich trug, schienen aus Glas zu sein, Augäpfel glühten wie kleine Laternen. Diejenigen, die die Natur lediglich etwas wunderlich geschaffen hatte, wurden zu grotesken Gestalten, alles Groteske wurde zur Unnatur, denn alles geriet ins Extreme.
                                                   Auf verschlungenen Pfaden (Thomas Hardy 1840-1928)

Für uns endet der Europa – Streifzug in Österreich bei einem unserer Sterne am Literatur – Himmel.

Foto: ©не указан в источнике

Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und vielen anderen bedeutsamen Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.
                                                    Der Mann ohne Eigenschaften (Robert Musil 1880-1942)

Zu mancher Zeit kann Literatur auf Menschen die Wirkung haben, die Franz Kafka sich gewünscht hat, als er diese Zeilen schrieb,

Foto: © Max Pixel

 

 

Wir brauchen Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in die Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.
                          Brief an Oskar Pollak 1904 (Franz Kafka 1883-1924)

 

meint, Euer Kultur Jack!

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !