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B(r)uchstücke der Literatur XXXII – Die europäische Feder

B(r)uchstücke der Literatur XXXII – Die europäische Feder

Der Reiz der europäischen, gegenüber der amerikanischen Literatur liegt darin, dass die Unterschiede zwischen Ländern und Leuten wesentlich größer sind, als bei den Bewohnern der verschiedenen Bundesstaaten der USA. England, Italien, Frankreich, Deutschland, Österreich und alle anderen Nichtgenannten sind verschiedene Welten, obwohl wir ein Kontinent sind. Das gibt uns die Möglichkeit, durch Jahrhunderte gewachsene Kulturen, neue Sichtweisen und Lebensstrukturen kennenzulernen. Jedoch eines wohnt in allen Schriftstellern: Sie versuchen uns durch die Eigenheiten ihres persönlichen Stils, auf irgendeine Weise zu bewegen oder zu berühren.

„Wie kommt es nur, dass man an manchen Orten das Gefühl hat, als sei das Leben nicht bloß eine lange Schaustellung von Bildern für menschliche Augen, sondern ein atmendes, glühendes, treibendes Wesen, von dem wir keinen wichtigeren Teil bedeuten als die Schwalben und Elstern, die Füllen und Schafe auf den Wiesen, die Sykomoren, Eschen und Blumen in den Feldern, die Felsen und funkelnden Bäche oder selbst die langgestreckten, flaumigen Wolken und ihre Treiber mit den sanften Stimmen, die Winde?“
Die Nacht der Butterblumen, John Galsworthy (1867-1933)

Foto: © Nobel Foundation

 

Interessanter Gedankengang von Franz Werfel.
„Wer seinen Vater sieht, sieht Gott. Denn dieser Vater ist das letzte Glied der ununterbrochenen Ahnenkette, die den Menschen mit Adam und dadurch mit dem Ursprung der Schöpfung verbindet. Doch auch wer seinen Sohn sieht, sieht Gott. Denn dieser Sohn ist das nächste Glied, welches den Menschen mit dem Jüngsten Gericht, dem Ende aller Dinge und der Erlösung verbindet.“
Die vierzig Tage des Musa Dagh, Franz Werfel (1890-1945)

Foto: © Library of Congress

 

Leo Tolstoi hat die richtige Forderung an Kriegstreiber.
„Ich würde nur eine einzige Bedingung stellen“, fuhr der Fürst fort. „Alphonse Karr hat das vor dem Krieg mit Preußen sehr gut ausgedrückt: Ihr seid der Ansicht, dass der Krieg notwendig ist? Schön. Wer den Krieg predigt, wird in ein Sturmbataillon gesteckt, und dann auf zum Sturm, zur Attacke, allen voran!“
Anna Karenina, Leo Tolstoi (1828-1910)

Foto: © Sass, Moscow

 

Einer der feinsinnigsten Schriftsteller Österreichs war Joseph Roth, und seine Romane „Die Kapuzinergruft“ oder „Hiob“  sind unvergesslich. Er war aber auch einer der Vielen, die an den Folgen des Naziregimes zugrunde gingen.
„Ich sah auf ihren Schoß, auf dem sie die Serviette zusammenfaltete, und ich dachte daran, andächtig, aber auch zugleich vorwurfsvoll, dass dort der Ursprung meines Lebens war, der warme Schoß, das Mütterlichste meiner Mutter, und ich verwunderte mich darüber, dass ich so stumm ihr gegenüberzusitzen vermochte, so hartnäckig, ja, so hartgesotten, und dass auch sie, meine Mutter, kein Wort für mich fand, und dass sie sich offenbar vor ihrem erwachsenen, allzu schnell erwachsenen Sohn schämte wie ich mich vor ihr, der altgewordenen, zu schnell altgewordenen, die mir das Leben geschenkt hatte.“
Die Kapuzinergruft, Joseph Roth (1894-1939)

Foto: © Cambridgeforcast.wordpress.com

 

Literatur ist nicht immer ein Spaziergang und verlangt von uns meist konzentriertes Lesen und Investition von Zeit. Jedoch wenn man sich darauf einlässt, winkt oft großer, immaterieller Gewinn.

Foto: © www1.ndr.de

„Was also war das Leben? Es war Wärme, das Wärmeprodukt formerhaltender Bestandlosigkeit, ein Fieber der Materie, von welchem der Prozess unaufhörlicher Zersetzung und Wiederherstellung unhaltbar verwickelt, unhaltbar kunstreich aufgebauter Eiweißmolokel begleitet war. Es war das Sein des eigentlich Nicht – sein – Könnenden, des nur in diesem verschränkten und fiebrigen Prozess von Verfall und Erneuerung mit süß-schmerzlich-genauer Not auf dem Punkt des Seins Balancierenden. Es war nicht materiell und es war nicht Geist. Es war etwas zwischen beidem, ein Phänomen, getragen von Materie, gleich dem Regenbogen auf dem Wasserfall und gleich der Flamme. Aber wiewohl nicht materiell, war es sinnlich bis zur Lust und zum Ekel, die Schamlosigkeit der selbstempfindlich-reizbar gewordenen Materie, die unzüchtige Form des Seins. Es war ein heimlich-fühlsames Sichregen in der keuschen Kälte des Alls, eine wollüstig-verstohlene Unsauberkeit von Nährsaugung und Ausscheidung, ein exkretorischer Atemhauch von Kohlensäure und üblen Stoffen verborgener Herkunft und Beschaffenheit. Es war das durch Überausgleich seiner Unbeständigkeit ermöglichte und in eingeborene Bildungsgesetze Wuchern, Sichentfalten und Gestaltbilden von etwas Gedunsenem aus Wasser, Eiweiß, Salz und Fetten, welches man Fleisch nannte und das zur Form, zum hohen Bilde, zur Schönheit wurde, dabei jedoch der Inbegriff der Sinnlichkeit und der Begierde war. Den diese Form und Schönheit war nicht geistgetragen, wie in den Werken der Dichtung und Musik, auch nicht getragen von einem neutralen und geistverzehrenden, den Geist auf eine unschuldige Art versinnlichenden Stoff, wie die Form und die Schönheit der Bildwerke. Vielmehr war sie getragen und ausgebildet von der auf unbekannte Art zur Wollust erwachten Substanz, der organischen, verwesend-wesenden Materie selbst, dem riechenden Fleische…“
Der Zauberberg, Thomas Mann (1875-1955)

 

Es ist schon berührend, wenn sich ein Mann tiefschürfende Gedanken über die Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind macht.

Foto: © High Contrast

„Wie fremd sind wir uns, ein anderer Mensch, das ist wie ein anderer Stern. Und nun ist das Fremde in einem selbst, nur eine Ahnung zuerst, ein erster Schreck. Aber es wird fühlbar, es wächst und ist da, Fleisch von deinem Fleisch und doch nicht du selbst, sondern von dir verschieden seit der ersten Stunde. Es bildet sich fort und weitet sein Haus, da bist du schon nichts mehr als Schale für die Frucht.
Es lebt von deinen Säften, regt sich auch schon nach seinem Willen, du bist ein zwiefaches Wesen, wo du gehst und stehst. Und von Stund an liebst du das Kind, von dem Augenblick an, da es beginnt, sich von dir zu lösen. Und darum ist es eine schmerzliche Liebe. Jetzt ist dir nicht mehr bang um dich selbst, alle deine Gedanken und Sorgen und Wünsche wendest du dem Kinde alleine zu. Es wird schön von Gestalt sein oder hässlich, leicht von Gemüt oder schwerblütig, ein ganz neuer Mensch und dir so nahe, und du vermagst nichts über ihn. Ein Herz wird er haben, und du kannst nichts dazu tun, dass ihm sein Herz glücklicher schlage als dir das deine. Denn dieses dein Herz wird siebenfach durchbohrt…
Mütter, Karl Heinrich Waggerl (1897-1973)

 

Liebe Leute, Bilder an Wänden, sind wie Fenster, durch die wir mit unseren Augen auf ein Geschehen blicken. Bei Büchern ist es eigentlich nicht anders, nur dass wir unser geistiges Auge benutzen, meint,
Euer Kultur Jack!

Beitragsbild: Nord Nord West

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !