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Die Geburt einer Hauptstadt – Brasilia

Die Geburt einer Hauptstadt – Brasilia

Im September 1972 hätten Brasiliens Staatsbeamte beinahe ihre Stellungen und die Diplomaten ihre Immunität verloren! Weshalb? Sie wollten nicht in die neue Hauptstadt Brasiliens umziehen, und konnten nur mit dieser Androhung dazu bewogen werden. Jedoch wozu eine neue Hauptstadt?
Nach der Entdeckung Amerikas wurde Brasilien portugiesische Kolonie und 1549 Salvador da Bahia Hauptstadt des Landes. Als sich das wirtschaftliche Zentrum in den Süden Brasiliens verlegte, wurde 1763 Rio de Janeiro zur neuen Hauptstadt erkoren.

Mit der Bestrebung nach Unabhängigkeit von der portugiesischen Krone, Ende des 18. Jahrhunderts, erwachte der Wunsch nach einer Hauptstadt im Landesinneren, um sie im Falle einer Invasion besser verteidigen zu können. Dieser Wunsch wurde zum Traum, und der erfüllte sich erst im Jahre 1956. In diesem Jahr waren Präsidentschaftswahlen und der Kandidat Juscelino Kubitschek machte ein Wahlversprechen daraus, und das verhalf ihm zum Sieg.

Als Ort für diese Stadt wählte man ein Hochplateau in fast 1200 Meter Höhe, im Herzen des Landes, das von jeder großen Metropole mindestens 800 km entfernt war. Die Distanz zum nächsten Flughafen und Bahnhof betrug über 100km und zur nächsten befestigten Straße 600km. Bauholz und Stahl wurden aus einer Entfernung von über 1000km angeliefert. Die Jury, die zur Vergabe der Planung eingesetzt war, traf eine glückliche Entscheidung, als sie den Stadtplaner Lucio Costa und den, damals aufstrebenden, Architekten Oscar Niemeyer mit dem Projekt betrauten.

Costa war ein Bewunderer des Architekten Le Corbusier und ein Verfechter von Funktionalität und Rationalität. Aus diesen Gründen teilte er die Stadt in vier Bereiche auf: Arbeiten, Wohnen, Kultur und Sport, und als Grundriss ließ er zwei Achsen im rechten Winkel aufeinandertreffen. Durch geologische Gegebenheiten wurde die Querachse etwas gebogen, wodurch sich aus der Vogelschau die Form eines Flugzeuges ergab. Die Unterlagen für den Wettbewerb trugen den Namen „Plano Piloto“, deshalb wird bis heute von vielen angenommen, dass die Flugzeugform beabsichtigt war.

 

Die Entscheidung für die Kreuzachse war ein einfacher, wie auch genialer Schachzug. Auf der Längsachse befinden sich die öffentlichen Gebäude und Monumente und auf der Querachse die Wohn- und Geschäftseinheiten. Im Schnittpunkt beider Achsen die öffentliche Verkehrseinrichtung – der 700 Meter lange, mehrstöckige Busbahnhof. Da man bei der Planung der Gesamtfläche unbegrenzt war, durchziehen die weitläufig angelegten Verkehrsstraßen noch weitläufigere Grünflächen.

 

Für den Architekten Oscar Niemeyer erfüllte sich mit Brasilia der Wunschtraum jedes Architekten – er entwarf alle Regierungsgebäude der neuen Hauptstadt. Zu diesem Zeitpunkt besaß er bereits eine gewisse Reputation, hatte er doch, zusammen mit Le Corbusier, den Entwurf für den UNO-Hauptsitzes in New York geliefert.

 

Niemeyer, der 105 Jahre alt wurde, schuf eine futuristische und utopische Architektur, wobei kein Gebäude dem anderen glich. Der Bogen und der Schwung waren ihm bei den Gebäuden sehr wichtig, er selbst nannte es „Die Symphonie der Formen“. In seinen Memoiren schrieb er dazu: „Der rechte Winkel hat mich nie angezogen, nicht die gerade Linie, hart, unflexibel, vom Menschen geschaffen. Mich hat die Kurve fasziniert, frei und sinnlich, die Kurve, die ich in den Bergen meines Landes finde, im gewundenen Verlauf seiner Flüsse, den Wellen des Meeres, im Körper einer schönen Frau. Das ganze Universum ist aus Kurven gemacht. Das gekrümmte Universum Einsteins.“

 

Die Stadt wurde in Rekord-Tempo errichtet, denn 1956 begonnen, war der „Plano Piloto“ vier Jahre später weitgehend fertiggestellt – Brasilia wurde als neue Hauptstadt eingeweiht und löste Rio de Janeiro in dieser Funktion ab. Niemeyers einzigartige Architektur wurde nie in Frage gestellt und seit 1987 steht Brasilia auf der UNESCO- Liste des Weltkulturerbes.

 

So reibungslos der Bau der Stadt funktionierte, konnte die sozialistische Idee, die dem Projekt auch innewohnte, nicht umgesetzt werden. Costa entwarf die Metropole für 500.000 Menschen und erweiterte das Vorhaben später um 200.000. Nur die Mitarbeiter der öffentlichen Dienste Brasiliens, aus allen Gesellschaftsschichten gut durchmischt, sollten dort zusammenleben. Jedoch die tausenden Bauarbeiter, die die Stadt errichtet hatten und an deren Rand lebten, gingen nach der Fertigstellung nicht zurück, sondern blieben.

Durch fehlende Gegensteuerung und weiteren Zuzug erlitt Brasilia das Schicksal aller brasilianischen Städte. Aus den geplanten 700.000 Einwohnern wurden bis heute über drei Millionen, wovon sich die wenigsten das Leben in der Kernzone leisten können. Rund um die Hauptstadt haben sich in einem 25km-Radius 15 Satellitenstädte entwickelt, an die sich teilweise Slumsiedlungen anschließen. In späteren Jahren sah Niemeyer die sozialistische Komponente des Städteplans als gescheitert an.

Wer Interesse an  historischen Filmausschnitten und  Zeitzeugen zur Entstehung Brasilias hat, dem sei dieses 30-minütige Video empfohlen!

Brasilia

Liebe Leute, alle Hauptstädte unseres Planeten sind über Jahrhunderte kontinuierlich gewachsen und das Ergebnis vieler ideenreicher Köpfe. Brasilia dagegen ist die einzige Hauptstadt der Welt, die auf dem Reißbrett entstanden ist und bereits nach vier Jahren zu einem herausragenden Dokument moderner Architektur wurde. Und diese Herausforderung und Verantwortung haben drei Männer auf ihren Schultern getragen und bravourös umgesetzt: Juscelino Kubitschek, Lucio Costa und Oscar Niemeyer!
Euer Kultur Jack!

Beitragsbild: Plano Piloto, Pixabay

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !