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Netsuke-große Kunst in kleiner Dimension

Netsuke-große Kunst in kleiner Dimension

Berechtigterweise, wird bei vielen Lesern unseres Kulturblogs die erste Frage sein: Was ist das?
Netsukes stammen aus Japan und erfüllten anfangs einen praktischen Zweck. Im Gegensatz zu westlicher Kleidung, hat ein japanischer Männer-Kimono keine Taschen. Um Geld, Tabak, Pillen oder sonstiges mit sich zu tragen, verwendete man ein Sagemono (Hängesache). Dieses Sagemono wurde an einer Kordel um den obi (Kimonogürtel) geschlungen getragen, wobei das Netsuke auf der anderen Seite der Kordel als Gegengewicht diente.

 

Der möglicherweise von mongolischen Reiterstämmen stammende Gegenstand besaß anfangs keinen künstlerischen Anspruch und war reiner Gebrauchsgegenstand. Erst ab der Edo-Zeit (1603-1868) entwickelte sich das Netsuke zu einem Statussymbol, womit natürlich auch das Verlangen nach künstlerischer Qualität stieg. Mit Beginn der Meiji-Zeit (1868-1912), setzte sich die westliche Kleidung in Japan durch und Netsukes hatten als Gebrauchsgegenstand bald ausgedient.

 

Zur Befestigung der Kordel bedarf es einer natürlichen Öffnung im Netsuke (z.B. zwischen Armen und Beinen der Figur). Dieser Durchlass, himotoshi genannt, kann aber ebenfalls durch ein künstliches Bohrloch entstehen. Dieses Bohrloch hilft auch bei der Bestimmung des Alters und Zuschreibung zu einem vermuteten Künstler.

 

Es gibt verschiedene Formen von Netsuke, jedoch die häufigste (90%) ist die katabori – Form, wobei der geschnitzte Gegenstand rundum, also auch die beim Tragen nicht sichtbare Seite, detailliert ausgeführt ist.

 

Die am häufigsten verwendeten Materialien sind Holz und Elfenbein. Bei Holz dominiert Buchsbaum und Kirsche, jedoch werden auch Holzarten verwendet die außerhalb Japans so gut wie unbekannt sind. Elfenbein vom Elefanten wurde aus Siam importiert, alternativ war es noch vom Pottwal, Walross und Narwal. Aber es wurden auch tierische Zähne, Horn, Korallen und Schildpatt geschnitzt.

 

Als Motive waren die zwölf Tiere des asiatischen Sternkreises sehr beliebt. Jedoch auch Götter, Helden der Geschichte und mythologische Figuren erfreuten sich großer Popularität. Es wurde so gut wie kein Thema ausgeschlossen, denn auch realistische Figuren des Alltags, wie, Greise, Bettler, Betrunkene, Erotik und Figuren der Arbeitswelt waren immer wiederkehrende Gestalten.

 

Was macht sie so besonders? Der künstlerische Aufwand im Verhältnis zur Größe! Die Figuren oder Gegenstände sind sehr detailreich ausgeführt und die Musterungen (Tierschuppen, Bekleidungsdekor, Schmuck) realistisch geritzt. Erschwerend für den Künstler ist der Umstand, dass die meisten Netsuke maximal 2-5 cm groß sind. Die alten zweckgebundenen Netsuke sind selten signiert, erst mit der beginnenden Sammlertätigkeit versah sie der „Netsukeshi“, wie er in Japan genannt wird, mit seinem Namenszug oder Werkstattzeichen. Die Anzahl der Schnitzer die sich in dieser Kunstform betätigten soll  bei etwa 3000 liegen und heute sind weltweit noch ungefähr 50 tätig.

 

Die Wandlung der Netsukes vom Gebrauchsgegenstand zum Sammlerobjekt, begann in 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Durch die Öffnung Japans zum Westen verlor der Kimono als Alltagsbekleidung an Bedeutung und westliche Mode eroberte kontinuierlich die japanische Gesellschaft. Im Gegenzug erlag Europa der Faszination des fernen Ostens, die in eine an Hysterie grenzende Begeisterung für japanische Innenarchitektur und asiatische Objekte mündete. Die asiatischen Einflüsse machten vor keinem Lebensbereich halt und auch die europäischen Künstler erlagen ihrem Charme, was die Kunstgeschichte heute als Japonismus bezeichnet.

 

Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis die kleinen, entzückenden Netsukes ihre Sammler in Europa fanden. Eine bedeutende, und auch historisch interessante Sammlung dieser nussgroßen Objekte möchte ich hervorheben – die des Sammlers Charles Ephrussi!

 

Charles Ephrussi war ein, in Paris lebender, jüdischer Bankier, Kunstkritiker und Kunstsammler in dessen Haus Poeten wie Marcel Proust und die Künstler des Impressionismus ein und aus gingen. Bis zu seinem Tod, 1905, hat er 264 Netsukes von höchster Qualität zusammengetragen. Diese gingen danach als Erbschaft an den Wiener Ableger der Familie, wo sie über Jahrzehnte eine würdevolle Bleibe fanden.

 

Der Einmarsch der Nationalsozialisten 1938 in Wien und deren unmenschliches Regime enteignete die Familie in Windeseile und verstreute die Mitglieder über die Welt. Auf Grund der Loyalität und Schlauheit der ehemaligen Zofe Anna im Wiener Ringstraßenpalais, konnten die Netsuke als einzige Sammlung gerettet werden.

 

Nach dem Krieg fanden die 264 Schnitzereien ein liebevolles Zuhause bei Ignaz Ephrussi in Tokio, und dieser vermachte sie letztendlich seinem, in London lebenden, Neffen Edmund de Waal. Der Keramikkünstler Edmund de Waal recherchierte die Geschichte seiner Familie und der Netsukesammlung, und daraus entstand,2011, das interessante und berührende Buch „Der Hase mit den Bernsteinaugen“.

 

Dieses aus den Recherchen entstandene Familienarchiv vermachte de Waal dem Jüdischen Museum in Wien. Weiters stellte er 157 Netsukes als Leihgabe für eine Ausstellung zur Verfügung, mit denen mir das Jüdische Museum, dankenswerterweise, bei einem großen Teil der Fotos dieses Beitrags aushalf.

 

Liebe Leute, Netsukes sind eine exotische und für Europäer ungewöhnliche Kunstform, jedoch, wenn man sich mit ihnen beschäftigt, den künstlerischen Aufwand und die entzückenden Endprodukte betrachtet, kann leicht der Wunsch erwachen, mit diesen Winzlingen eine Sammlung zu beginnen.

 

Dann versteht man auch Edmund de Walls Vorliebe, von Zeit zu Zeit, eines dieser Kleinode als „Handschmeichler“ in der Hosentasche mit sich zu tragen.
Euer Kultur Jack!

Foto Beitragsbild: Ratte im Korb, Hiart

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !