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B(r)uchstücke der Literatur XXXVIII – Ansichten und Einsichten

B(r)uchstücke der Literatur XXXVIII – Ansichten und Einsichten

Das Beeindruckendste an Literatur ist für mich, wie Schriftsteller mit Wörtern und der Sprache umgehen. Jedoch manchmal bin ich auch von ihren Ideen und Vorstellungen berührt und angetan.

Foto: © Adolf Neumann, Die Gartenlaube

„Mitunter, wenn ich mit Vorstellungen spiele, denke ich mir, dass jedes Leben sich darstellen ließe durch die Aufreihung der Kleider, die man getragen hat. Eine lange Stange in einem großen, leeren Raum, und auf ihr hingen am Beginn, das erste Kinderkleid und am Ende das Totenhemd. Und dazwischen käme eins nach dem anderen was uns einmal bekleidet hat : der zerrissene Anzug der Indianerspiele und der Konfirmationsrock, das Tanzstunden – und das Examensgewand, das graue schmutzige Kleid des Krieges und das der Feste, die Zeugen des Gartens und der Reisen, und endlich neigte sich alles zum Bettlerkleid oder höbe sich auf zu dem des Erfolges und des Ruhmes. Und darunter ständen alle Schuhe, die wir vertreten haben, still nebeneinander, und unsichtbar hinge über ihnen die Wolke des Staubes, die ihren Erdenweg bedeckt hat. Eine eindringliche Biografie des Schweigens und der Vergänglichkeit.“
Von den treuen Begleitern, Ernst Wichert (1831-1902)

Es stimmt schon – niemand auf dieser Welt ist eine unberührte Insel!

Foto: © Österreichische Nationalbibliothek

„Aber atmen wir nicht beständig die Luft ein, die ein anderer ausatmet, und vermischt sich auch sonst unser Leben fortwährend mit dem Leben, ja sogar mit dem Tode anderer. Das Brot, das wir essen, ist vielleicht aus dem Mehl gebacken, welches aus der Ähre gemahlen worden ist, die aus dem Leib eines Toten entsprungen, und der Fisch, den man uns aufträgt, mag sich von den Resten eines Ertrunkenen genährt haben. Unsere Unnahbarkeit, durch die wir nicht in Berührung mit unserer Mitwelt zu kommen glauben, ist eine höchst oberflächliche, und unsere angemaßte Unberührbarkeit ist faktisch nicht vorhanden. Fortwährend beschmutzen wir uns die weißen Handschuhe, die wir noch immer zu tragen meinen, fortwährend weht die Substanz aller anderen Wesen und Dinge in Spuren zu uns herüber und die der unsrigen zu ihnen. Es mischt sich, immerzu, alles mit allem.“
Beide Sizilien, Alexander Lernet-Holenia (1897-1976)

Wenn man Millers Werk liest, bemerkt man bald, dass er einen Hang zu Außenseitern hatte.

Foto: © Carl van Fechten, Library of Congress

„Ich lernte viele Dinge, die ich niemals anwendete, und kaum irgendetwas, was für mich von Wert war. Mit einer Ausnahme: Menschen. Mein Leben lang hatte ich diese Gabe, Menschen kennenzulernen, sie zu studieren, zu ihnen zu gehören. Es spielte kaum eine Rolle, aus welcher Schicht sie stammten, was für eine Schulbildung sie genossen hatten und so weiter. Im Wesentlichen sind alle gleich. Und doch ist jeder einzigartig. Seltsames Paradox. Jeder ist zu gewinnen – und zu erlösen. Die im Gefängnis sind oft besser als diejenigen, die sie hineingebracht haben. Diebe und Zuhälter sind weitaus interessanter als Prediger und Lehrer – oder als die meisten Psychologen. Niemanden sollte man ganz verachten. Manche sollte man vielleicht ermorden, kaltblütig. Doch nicht alle Mörder sind Mörder im Herzen.“
Jugendfreunde, Henry Miller (1891-1980)

Erwin Ringel hat zwar einige Bücher geschrieben, war aber trotzdem kein Schriftsteller, sondern Psychiater. Jedoch seine Menschlichkeit und Klarsicht machen seine Schriften zum Genuss. Allein schon der Titel dieses Buches!

Foto: © Gugerell

„Eine glaubwürdige Kirche würde alle Güter aufgeben und das Ideal der Armut verwirklichen. Sie würde keine Privilegien anstreben. Sie würde jede Form der Hierarchie abbauen. Sie würde nie einen Krieg unterstützen. Die Todesstrafe würde sie auf keinen Fall befürworten. Gegenüber Andersdenkenden würde sie großzügig sein und nicht versuchen sie zu konvertieren. Sie würde auch nicht ihre Ziele mit dem Willen Gottes identifizieren.
Eine solche Kirche würde ein ehrliches historisches Verständnis anstreben. Sie würde nicht die Versäumnisse und Verfolgungen der Vergangenheit ignorieren. Sie würde keinen Dualismus zwischen Körper und Seele fördern. Für eine asketische Lebensweise hätte sie kein Verständnis. Sie würde im Zeitalter von Aids – eine Seuche, die furchtbare Auswirkungen hat – effektive Verhütungsmittel unterstützen. Niemand in dieser Kirche würde von Aids als Strafe Gottes sprechen.
Eine solche Kirche würde keine Dogmen haben, sondern versuchen, durch schöpferische Taten zu überzeugen. Eine universelle Menschlichkeit wäre im Zentrum ihrer Bemühungen.“
Ich bitt´ Euch höflichst, seid´s keine Trottel, Erwin Ringel (1921-1994)

Diese Einsicht würde einer Menge Menschen zu einem angenehmen und freien Leben verhelfen.

Foto: © Kultur Jack

„Ist es so, dass alles was wir tun, aus Angst vor Einsamkeit getan wird? Ist es deswegen, dass wir auf all die Dinge verzichten, die wir am Ende des Lebens bereuen werden? Ist das der Grund, weshalb wir so selten sagen. was wir denken? Weshalb sonst halten wir an all diesen zerrütteten Ehen, verlogenen Freundschaften, langweiligen Geburtstagsessen fest? Was geschähe, wenn wir all das aufkündigten, der schleichenden Erpressung ein Ende setzten und zu uns selbst stünden? Wenn wir unsere geknechteten Wünsche und die Wut über ihre Versklavung hochgehen ließen wie eine Fontäne? Denn die befürchtete Einsamkeit – worin besteht sie eigentlich? In der Stille ausbleibender Vorhaltungen? In der fehlenden Notwendigkeit, mit angehaltenem Atem über das Minenfeld ehelicher Lügen und freundschaftlicher Halbwahrheiten zu schleichen? In der Freiheit, beim Essen niemanden gegenüberzuhaben? In der Fülle der Zeit, die sich auftut, wenn das Trommelfeuer der Verabredungen verstummt ist? Sind das nicht wundervolle Dinge? Ein paradiesischer Zustand? Weshalb also die Furcht davor? Ist es am Ende eine Furcht, die nur besteht, weil wir ihren Gegenstand nicht durchdacht haben? Eine Furcht, die uns von gedankenlosen Eltern, Lehrern und Priestern eingeredet worden ist? Und warum sind wir eigentlich so sicher, dass uns die anderen nicht beneideten, wenn sie sähen, wie groß unsere Freiheit geworden ist? Und dass sie nicht daraufhin unsere Gesellschaft suchten?“
Nachtzug nach Lissabon, Pascal Mercier (geb. 1944)

Der Blick auf das Sterben in Manns „Zauberberg“, mag ein stoischer sein, aber von der Logik auch ein überzeugender.

Foto: © unifr.ch

„Tatsächlich ist unser Sterben mehr eine Angelegenheit der Weiterlebenden als unserer selbst; denn ob wir es nun zu zitieren wissen oder nicht, so hat das Wort des witzigen Weisen jedenfalls volle seelische Gültigkeit, dass, solange wir sind, der Tod nicht ist, und dass, wenn der Tod ist, wir nicht sind; dass also zwischen uns und dem Tod gar keine reale Beziehung besteht und er ein Ding ist, das uns überhaupt nichts und nur allenfalls Welt und Natur etwas angeht, – weshalb denn auch alle Wesen ihm mit großer Ruhe, Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit und egoistischer Unschuld entgegenblicken.“
Der Zauberberg, Thomas Mann (1875-1955)

Literarisch wertvolle Bücher erfreuen den Geist und die Seele des Lesers. Wenn aber eine Ansicht des Schreibenden, uns über unser Leben reflektieren lässt oder dieses sogar positiv verändert, dann ist der Wert eines guten Buches eigentlich unbezahlbar.
Euer, Kultur Jack!

Foto Beitragsbild: Pixabay

Über den Autor

Kultur Jack

Vor längerer Zeit in Wien geboren, und bis heute mit der Ortswahl glücklich! Da man von kultureller Leidenschaft allein schwer leben kann, bin ich, im kaufmännischen Bereich, selbständig tätig. Meiner Meinung nach, sollte man geistige Genüsse, nach deren Entdeckung, teilen und weitergeben, damit so viele Menschen wie möglich davon berührt werden. Es liegt ja auch im Sinne des Künstlers, sonst würde er ja kein Buch drucken lassen, oder Bilder zur Schau stellen. Mehr über mich !